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29.05.2013

DR. WATSON Facts

Ein Löffelchen für BASF, und eins für Pfizer: Die Vitaminkonzerne wollen jetzt ihre Konzernkassen mit Hilfe der Armen füllen - mit Unterstützung von geschäftstüchtigen Wissenschaftlern, etwa von der Universität Hohenheim.
Foto: Montage DR. WATSON

Engel mit Profitinteressen

Zwangs-Vitaminisierung der Armen - oder besser echtes Essen?

Angesichts wachsender Kritik an Risiken und Nebenwirkungen von Vitaminpillen haben die Hersteller ihre Strategien neu ausgerichtet und zielen jetzt auf die Armen und Unterernährten in der Dritten Welt, aber auch hierzulande. Der Vorteil: Die Geschäfte mit humanitärer Note stoßen in der Öffentlichkeit bislang auf Zuspruch. Jetzt allerdings wird Kritik laut: Für die Hungernden wäre echtes Essen besser als chemisches Vitaminpulver.

Die Suche nach neuen Zielgruppen ist aus der Sicht der Vitaminhersteller verständlich: In den Industrieländern, insbesondere Europa, häufen sich die Hinweise auf Risiken und Nebenwirkungen von Vitaminpillen und Nahrungszusätzen. Nach mehreren Studien können sie sogar das Leben eher verkürzen als verlängern.

Allein in Deutschland sind, auf der Basis dieser Erkenntnisse, pro Jahr mehr Vitamintote als Verkehrstote zu beklagen. Die Europäische Union hat als Konsequenz die Werbung mit angeblich segensreichen Wirkungen stark eingeschränkt (siehe Hans-Ulrich Grimm: Vom Verzehr wird abgeraten).

Jetzt haben die Vitamin-Multis, allen voran der niederländische Marktführer DSM, ihre Marketingstrategien auf neue Zielgruppen ausgerichtet: Die Armen und Unterernährten insbesondere in der Dritten Welt.

Die Versorgung mit Vitaminen, Mineralstoffen und Spurenelementen oder mit angereichertem Essen soll Leben retten, die Gesundheit der Menschen verbessern, aber auch ihre Produktivität. „Vitamine in Bewegung“ nennt DSM ihr Programm gegen den weltweiten Vitaminmangel, umgesetzt von der Initiative „Life and Sight“.

Die sogenannten „Vitamin-Engel“, eine Vereinigung von Pharma-Multis und Lebensmittelkonzernen, wollen beispielsweise mit Hilfsprojekten wie ihrer Operation 20/20 Vitamin-A-Mangel bekämpfen oder mit „Thrive to Five“ ("Gedeihen bis Fünf") flächendeckend Nährstoffmixturen an Kleinkinder ausgeben.

Das Schöne für die Pharmafirmen: Mit ihrer neuen Zielgruppenstrategie finden sie breiten Beifall und Unterstützung, nicht nur in der holländischen Heimat des Marktführers DSM, wo der Food-Multi Unilever, die Groß-Company für Spezialchemikalien Akzo Nobel und der Saatgutkonzern Rijk Zwaan sich zur Anti-Unterernährungs-Initiative AIM („Amsterdam Initiative against Malnutrition“) zusammengeschlossen haben, mit dabei auch Wissenschaftler von der Universität Wageningen.

In Deutschland hat sich der Hohenheimer Professor Hans Konrad Biesalski des Projekts angenommen. Im diesem Frühjahr hat er einen internationalen Kongress organisiert, bei dem es um den „versteckten Hunger“ („Hidden Hunger“) ging. Der „versteckte Hunger“ ist jene Form von Unterernährung, die zum Beispiel mit Vitaminpilen zu stillen ist, so sehen das jedenfalls die Unterstützer aus der Industrie.

Biesalski gehört zu den geschäftstüchtigsten Vertretern seiner Zunft und ist der Industrie seit langem freundschaftlich verbunden (siehe Hans-Ulrich Grimm: Die Ernährungslüge). Für seinen Kongress konnte er eine respektable Sponsorenriege einbinden: Darunter natürlich die Lobbyvereinigung „Gesellschaft für angewandte Vitaminforschung“, auch Hersteller wie BASF, DSM, Pfizer, Food-Multis wie Nestlé, Südzucker und das seinerseits von Firmen wie Coca-Cola, Pepsi und Unilever unterstützte „Micronutrient Forum“.

Sogar die internatione Atomenergiebehörde (Slogan: „Atoms for Peace“) war dabei, Karl-Heinz Böhms „Menschen für Menschen“, das Berliner Entwicklungshilfeministerium, auch die Deutsche Forschungsgemeinschaft und die Robert-Bosch-Stiftung. Auf der Webseite der Universität Hohenheim findet sich eine beeindruckende Übersicht der Sponsoren.

„2,5 Milliarden Menschen weltweit leiden unter 'verborgenem Hunger'“, so die Botschaft in der Pressemitteilung zum Kongress: „Auch wenn sie sich kalorienmäßig satt essen können, müssen sie oft Nahrungsmittel verzehren, die kaum lebenswichtige Mikronährstoffe enthalten.“

Die Botschaft wurde von den Medien gern aufgegriffen, etwa dem Deutschlandradio, der Südwestpresse oder der Badischen Zeitung. Sogar die ansonsten kritische "Tageszeitung" stimmte in den Jubelchor ein.

Auch Konsequenzen sind schon in Sicht: In Afrika sollen jetzt in Zusammenarbeit mit der Vereinigung World Vision Grundnahrungsmittel wie Mais, Reis und Weizen vitaminisiert werden.

Mittlerweile wird allerdings auch Kritik laut. So kann die auch von der Weltgesundheitsorganisation (WHO), oft in Partnerschaft mit Pharmaunternehmen, propagierte Vitaminverabreichung in Verbindung mit Impfungen oft unerwünschte Nebenwirkungen haben – und die Anfälligkeiten für Infektionskrankheiten und die Sterblichkeit mitunter eher noch erhöhen, warnt etwa Christine Stabel Benn vom dänischen Statens Serum Institut, das an einer Hilfs-Initiative für afrikanische Kinder beteiligt ist. „Der Effekt von zusätzlichem Vitamin A auf die Sterblichkeit im Ganzen war nicht immer positiv.“ Darauf deuteten jedenfalls ihre Studien aus den Jahren 2012 und 2013 hin.

Schon vor Jahren war etwa unter Indiens Ärzten Kritik an Vitaminprogrammen westlicher Organisationen laut geworden, nachdem dort im Rahmen eines Unicef-Vitaminisierungsprojekts mehr als 30 Kinder an einer Überdosis Vitamin A gestorben waren.

Der Vitamin-A-Mangel war, wie eine Untersuchung ergeben hatte, in manchen Gegenden weit weniger schlimm als behauptet. Trotzdem war die Dosis von den Unicef-Leuten die Dosis sogar noch erhöht worden.

Vitamin A ist wichtig für das Immunsystem und für die Regeneration von Körperzellen. Es hält Schleimhäute von Mund, Atemwegen, Magen und Darm intakt, in den Augen wird es für die Herstellung des Sehfarbstoffs Rhodopsin gebraucht und kann als wirksamer Radikalenfänger dienen. Wegen möglicher Nebenwirkungen wie Knochenschwäche, Lebererkrankungen und Missbildungen bei Babies wird es vom deutschen Bundesinstitut für Risikobewertung der „höchsten Risikokategorie“ zugeordnet.

Jetzt wird daher auch Kritik laut an den Vitaminisierungskampagnen für die Armen in der Dritten Welt und auch hierzulande. Der milliardenschwere EU-Hilfsfond für die Armen und Benachteiligten sollte sich auch um die Versorgung mit echtem Essen kümmern, forderte die Europäische Allianz für Öffentliche Gesundheit ("European Public Health Alliance", kurz EPHA).

Sie kritisiert, dass die Europäische Hilfsorganisation für sozial Benachteiligte ("European Aid to the most deprived fund") die Armen in statt mit echtem Essen bislang vor allem mit vitaminarmem Dosenobst, Gemüsekonserven oder anderen industriell verarbeiteten Lebensmitteln auch mit hohem Fett- und Zuckergehalt versorgt.

Die Gesundheitsrechtlerin und EPHA-Vertreterin Dorota Sienkiewcz fordert: "Wir wollen, dass der Fond gesündere und nährstoffreichere Lebensmittel zur Verfügung stellt, wie frisches Obst und Gemüse, Vollkorn und Hülsenfrüchte."

EPHA ist eine Organisation von gemeinnützigen Nonprofit-Organisationen, die sich für Gesundheit auf gesamtgesellschaftlicher Ebene einsetzen. Zu den Mitgliedern gehören etwa der World Cancer Research Fund International (WCRF), die Europäische Vereinigung der Diätassistenten (EFAD) oder die Wiener Internationale Akademie für Ganzheitsmedizin.

"Wenn wir die Versorgung mit frischem Obst und Gemüse in diesen besonders gefährdeten Gruppen erhöhen könnten, hätte das eine signifikante Verbesserung der Gesundheit zur Folge", sagte EPHA-Vertreterin Sienkiewcz, wobei natürlich auch die Nahversorgung wichtig wäre, idealerweise mit örtlich erzeugten saisonalen Produkten: "Das wäre dann auch für die lokalen Bauern gut."

Mehr über Vitamine, Risiken, Nebenwirkungen und Hintergründe:

Hans-Ulrich Grimm
Vom Verzehr wird abgeraten.
Wie uns die Industrie mit Gesundheitsnahrung krank macht
Droemer Verlag
320 Seiten Klappenbroschur, € 18,00
ISBN 3-426-27556-2
ISBN 978-3-426-27556-6