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21.09.2016

DR. WATSON Interview

„Obst ist gesund trotz Antioxidantien“: First-Class-Wissenschaftler Professor Michael Ristow
Giulia Marthaler / ETH Zurich

Vorsicht Vitamine

Spitzenforscher warnt vor Risiken und Nebenwirkungen:

Eigentlich gelten sie als der Inbegriff des Gesunden: Vitamine. In Wahrheit aber sind sie eher schädlich: Das behaupten Wissenschaftler der renommiertesten Forschungseinrichtungen der Welt. Einer von ihnen ist Professor Michael Ristow. DR. WATSON hat ihn in Zürich getroffen. Rechtzeitig zum Schulanfang, denn Kinder werden mit Vitaminen geradezu bombardiert. Erste Frage: Schaden wir ihnen damit womöglich, Herr Professor?

Professor Michael Ristow: Also es gibt zumindest keinen Hinweis darauf, dass Kinder von antioxidativen Vitaminen profitieren würden. Betacarotin, Vitamin A, Vitamin E sind beliebte Supplemente, aber wissenschaftlich betrachtet gibt es weder eine Unterversorgung, wenn Kinder diese nicht zusätzlich zuführen, denn die normale Nahrung enthält genug davon. Noch gibt es irgendeinen gesundheitlichen Zusatznutzen, wenn Kinder solche Supplemente zuführen.

Ristow hatte nachgewiesen, dass Vitamine sogar schaden können, zusammen mit Wissenschaftlern der amerikanischen Harvard Universität. Er selbst forscht heute an der Eidgenössischen Technischen Hochschule (ETH) in Zürich. Also: First Class Wissenschaft. High-End-Forschung. Renommierter geht’s nicht. Seine Studie hatte gezeigt, dass Vitamine etwa die positiven Effekte von Sport zunichtemachen. Sie sorgte weltweit für Aufsehen, sogar die New York Times hatte darüber berichtet. Konsequenzen? Die gab es nur punktuell.

Prof. Ristow: So haben zum Beispiel nach unseren Studien die Olympia-Schwerpunkte der skandinavischen Staaten aufgehört, Antioxidantien im Training einzusetzen, in der Sorge, dass Antioxidantien den Muskelaufbau vermindern könnten.

Bisher galten die sogenannten Antioxidantien und mithin auch die einschlägigen Vitamine als gesund, weil sie die bösen „freien Radikale“ bekämpfen. Die Hersteller-Lobby und einige mit ihnen freundschaftlich verbundene Professoren trommelten für ihre Produkte, obwohl sich die Hinweise häuften, dass Vitamine nicht gesund, sondern eher schädlich sind, dass sie das Leben nicht verlängern, sondern sogar verkürzen (siehe DR. WATSON NEWS vom 13. Juni 2012).

Spitzenforscher Ristow und seine renommierten Forscherkollegen können erklären, warum Schäden eine logische Folge des Vitaminverzehrs sind: Weil Vitamine störend in Körperabläufe eingreifen. Weil sie zum Beispiel die „Freien Radikale“ bekämpfen, die eigentlich gar nicht so böse sind, sondern sogar nützliche Akteure im Organismus sein können.

Prof. Ristow: Gerade beim Sport gibt es viele Hinweise darauf, dass die geringen Mengen an freien Radikalen, die dabei entstehen, etwa den Muskelaufbau fördern.

DR. WATSON: Aber nur, solange die „Freien Radikale“ in Kleingruppen auftreten, und nicht in Horden.

Prof. Ristow: In kleinen Mengen sind sie nützlich, in großen Mengen eher schädlich. Also, wenn ich sehr hohe Mengen an freien Radikalen auf ein biologisches System, eine einzelne Zelle oder ein Versuchstier oder ähnliches einwirken lasse, dann hat das negative Wirkungen. Das steht außer Frage. Und darauf beruhen auch die ganzen Studien der 1970er, 80er und 90er Jahre, die eben im Labor in eigens aufgebauten Systemen künstlich sehr hohe Mengen an oxidativen Stress auf dieses Versuchssystem gegeben haben und dann gesehen haben, es gibt DNA-Schäden, es gibt Zellalterung und all solche Dinge. Das ist alles korrekt.

DR. WATSON: Deshalb wurde uns gesagt, wir sollten Vitamine zu uns nehmen, Antioxidantien...

Prof. Ristow: Das Problem ist nur, dass die Mengen an oxidativem Stress, die in uns gesunden Menschen im Alltag überhaupt vorkommen, zehntausendfach oder sogar hunderttausendfach niedriger sind als das, was in diesem Versuchssystem eingesetzt wird. Die Mengen, die im Alltag wirken, haben überhaupt keine schädlichen Wirkungen.

DR. WATSON: Sondern?

Prof. Ristow: Diese Mengen haben sogar positive Wirkungen, weil sie nämlich im Körper körpereigene Abwehrmechanismen aktivieren. Und diese Abwehrmechanismen sind sehr lange aktiv und geeignet, andere negative Einflüsse abzuwehren. Das ist ähnlich wie bei einer Schutzimpfung, wo das Immunsystem aktiviert ist. So wird durch eine geringe Dosis oxidativen Stress die Körperabwehr nicht nur gegen solchen oxidativen Stress, sondern auch gegen viele andere potentiell schädliche Einflüsse aktiviert werden, so dass in der Bilanz, also in der Summe, der menschliche Körper davon profitiert.

DR. WATSON: Durch Schutz vor Entzündungen. Gleichsam eine Art körpereigener Brandschutz.

Prof. Ristow: Ja, es ist im Prinzip so, dass es gewissermaßen im Körper, etwa durch Sport, ein kleines Feuer gibt, das ist der oxidative Stress, der zum Beispiel entsteht, wenn Sie joggen. Der entsteht dabei hauptsächlich in der Beinmuskulatur, und die Muskelzellen, die diesem geringen oxidativen Stress ausgesetzt sind, fangen dann an, Signalstoffe freizusetzen, die im Blut zirkulieren. Gleichzeitig fangen sie aber an, in der Zelle das Löschsystem zu aktivieren und dieses Löschsystem ist dann in der Lage, innerhalb relativ kurzer Zeit dieses Feuerchen, diesen geringfügigen oxidativen Stress, wieder zu unterdrücken. Aber nicht nur das: Diese Aktivierung des Löschsystems bleibt wesentlich länger bestehen als der Brand, der vorher da war. Das heisst, die Sprinkleranlage läuft wesentlich länger, so dass für einen recht ausgedehnten Zeitraum geschützt bin vor vergleichbaren Ereignissen.

DR. WATSON: Und die antioxidativen Vitamine machen diesen Effekt zunichte, weil sie gleichsam den Brandschutz behindern.

Prof. Ristow: Die Vitamine löschen das Feuer so früh, dass das körpereigene Abwehrsystem da gar nicht mehr mitkommt, nicht aktiviert wird und so die Abwehrkraft geschwächt wird, die ja eben nicht nur gegen Feuer aktiv ist, sondern auch gegen Giftstoffe, Bakterien, Viren und andere Dinge.

DR. WATSON: Es muss sich ja jeder Organismus gegen Angriffe wappnen, sogar ein Baum kann sich dagegen wehren, dass Rehe seine Äste abfressen.

Prof. Ristow: Es ist gut, dass Sie die Pflanzen ansprechen, denn die Kollegen aus der Pflanzenbiologie haben schon sehr früh gezeigt, dass freie Radikale in der Pflanze eine wichtige Rolle in der Regulation der Abwehrsysteme spielen. Also wenn ich eine Pflanze sogenanntem Trockenstress aussetze, ihr zu wenig Wasser gebe, dann werden dort freie Radikale gebildet, die dazu führen, dass die Pflanze Abwehrsysteme aktiviert, die sie dann am Leben erhält.

DR. WATSON: Gerade bei Kindern ist es natürlich besonders wichtig, dass die Abwehr nicht behindert wird, durch Vitamine und andere Antioxidantien. Geben Sie Ihren Kindern denn so etwas? Pillen oder Corn Flakes mit Extra-Vitaminen?

Prof. Ristow: Ich habe keine Kinder, aber hätte ich welche, würde ich ihnen sicher keine Antioxidantien geben.

Dr. WATSON: Aber Äpfel würden Sie ihnen geben.

Prof. Ristow: Äpfel, aber insbesondere auch Beerenobst mit seinen dunkelblauen und dunkelroten Farben und natürlich Gemüse, all das ist zweifelsohne gesund. Das liegt aber nicht an den Antioxidantien darin, sondern daran, dass dort viele sogenannte sogenannte sekundäre Pflanzenstoffe, enthalten sind, von denen wir wissen, dass sie gesundheitsfördernd sind. Das Vitamin C, das in Obst und Gemüse enthalten ist, ist sicher nicht schädlich, aber auch nicht die Ursache, dass Obst und Gemüse gesund sind. Ich habe das mal überspitzt so formuliert: Obst und Gemüse ist nicht wegen der Antioxidantien gesund, sondern trotz der Antioxidantien.

DR. WATSON: Herr Professor Ristow, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

Das Interview führte DR. WATSON-Redakteur Hans-Ulrich Grimm


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Hans-Ulrich Grimm
Vom Verzehr wird abgeraten.
Wie uns die Industrie mit Gesundheitsnahrung krank macht
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320 Seiten Klappenbroschur € 18,00
ISBN 3-426-27556-2
ISBN 978-3-426-27556-6