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07.06.2013

DR. WATSON Recherche

Vorsicht Gift! Aber natürlich nicht in der Pizza. Westwaren gelten als vorbildlich und rein, anders als die skandalumwitterten Agrarprodukte Chinas.
Foto: Hans-Ulrich Grimm

Chinas Weg aus der Schmuddelecke

Westen als Vorbild: Zu Besuch im Mutterland der Nahrungsskandale

Die Verkäuferin trägt einem Mundschutz, aber natürlich nicht wegen der Pizza vor ihr, die ist ja von Dr. Oetker. Sie will sich vor der giftigen Umgebung schützen, schließlich arbeitet sie in Shanghai, wo alle Angst haben vor verseuchter Luft und Umwelt und auch Nahrung. Davon ist heute die ganze Welt betroffen. Denn China ist in wachsendem Maße für die Nahrungsversorgung zuständig geworden. Und deshalb bin ich hier, auf Recherche zur Frage, wo es hingeht mit der Ernährung auf unserem Planeten.

Die Chinesen würden jedenfalls gern raus aus der Schmuddelecke. China ist ja, so scheint es, das Mutterland der Nahrungsskandale – und strahlt aus auf den ganzen Globus, was den Deutschen ganz überraschend klar geworden ist, als 11000 deutsche Kinder und Jugendliche an virenbelasteten Erdbeeren aus China erkrankten. Die Bundesregierung kündigte, wie bei Skandalen üblich, verschärfte Kontrollen an. China wies die Vorwürfe zurück.

Die Welt sorgt sich zunehmend um die Qualität der chinesischen Nahrungsproduktion – denn wir alle können betroffen sein, von Schadstoffen, Schwermetallen, Krankheitserregern. Erst letzte Woche hatten sie hier belastete Austern gefunden. Auch da ist China Weltmarktführer, produziert 80 Prozent des globalen Angebots.

Wenn in China ein Sack Reis umfällt, dann war das früher so was von egal. Heute ist das ein Fall für die Abendnachrichten, zumindest wenn die Körner mit Cadmium belastet sind. Dann berichtet am nächsten Tag sogar die New York Times darüber.

So kümmert sich zunehmend der Westen um die Lebensmittel im Fernen Osten – aus eigenem Interesse.

Jetzt in Shanghai war es die amerikanische Handelskammer, die zu einer Konferenz über „Lebensmittelsicherheit“ einlud, wie üblich in ein Luxushotel, in diesem Fall das Mandarin Oriental, ein hochmoderner schwarzer Gebäudekomplex im Shanghaier Wolkenkratzerstadtteil Pudong.

Zur Versammlung geht es ins zweite Untergeschoss, vorbei an einer gläsernen Küche, in der alles blitzt und glänzt und chinesische Köche den Wok schwingen und den Teig rollen für die wunderbaren Teigtaschen, die chinesische Variante der Tortellini. Auch in den ultramodernen Luxushotels gibt es die klassischen Leckereien, auf die sie so stolz sind, die Chinesen mit ihrer langen Küchentradition.

Bei der Konferenz gibt es allerdings, wie überall auf der Welt, Kaffee und süße Snacks für die Teilnehmer: Amerikaner und Chinesen, Regierungsleute, Vertreter von Supermarktketten, aber auch Labors, Anwälte, Firmen wie Pepsi oder die Weight Watchers.

Doch leider: Die Veranstaltung ist nicht öffentlich, sagt Stefanie, die Amerikanerin, die uneingeladene Besucher wie mich hier sehr professionell abwimmelt. Es sei eine interne Veranstaltung, für die anwesenden Vertreter der Firmen und der Regierung. Die Presse ist nicht zugelassen, mit Ausnahme der sogenannten „Medienpartner“, darunter das „Wall Street Journal“ und die örtliche Staatszeitung „Shanghai Daily“.

So kennen wir das auch aus Deutschland, wo solche Konferenzen als private Geschäftsveranstaltungen gelten und nur ausgewählte und oft vom Veranstalter bezahlte Journalisten zugelassen sind – und Stefanies Kolleginnen ähnlich professionell abwimmeln.

So haben sich die Sitten erstaunlich schnell angepasst zwischen Ost und West.

Die Eröffnungsrede hält ein Mann, der sozusagen Mitglied ist in der Weltregierung in Sachen Lebensmittel. Er ist einer der Einflussreichsten im globalen Geschäft mit der Nahrungssicherheit. Bei der Weltgesundheitsorganisation (WHO) ist er Mitglied im Ausschuss für Lebensmittelsicherheit („WHO Food Safety Panel“).

Er ist zudem Vorsitzender jener Einrichtung der Vereinten Nationen, die die weltweiten Regeln für Lebensmittel-Zusatzstoffe festlegt, dem Codex-Alimentarius-Ausschuss für Zusatzstoffe: Professor Chen Jun Shi von Pekings Nationalem Zentrum für Risikobewertung bei Lebensmitteln.

Und Professor Chen ist nicht nur auf der staatlichen Seite der Lebensmittelüberwachung aktiv, sondern zugleich hoher Funktionär der weltweit wichtigsten Lobbytruppe der Food-Industrie, die von Coca-Cola, Nestlé, Monsanto, Danone und anderen Multis getragen wird, dem International Life Sciences Institute (Ilsi). Professor Chen ist China-Direktor der Lobby-Vereinigung.

Ganz ähnlich kennen wir das aus Deutschland.

Auch der oberste staatliche Ernährungsforscher Deutschlands ist hoher Funktionär bei Ilsi, der Lobbytruppe der Konzerne: Professor Gerhard Rechkemmer, der Chef des Bundesforschungsinstituts für Ernährung und Lebensmittel, das Ilse Aigners Berliner Verbraucherministerium unterstellt ist (mehr dazu in: Hans-Ulrich Grimm: Vom Verzehr wird abgeraten)

Es herrscht eine erstaunliche Harmonie in der globalen Gemeinschaft der Food-Funktionäre und ihrer Freunde aus der Industrie. Es gibt offenbar überhaupt keine Gegensätze zwischen den Gesellschaftssystemen. Die Welt der Nahrung wird dominiert von den großen Food-Konzernen, und die Regierungen ordnen sich da willig ein.

Die Chinesen begeben sich gern in dieses Milieu, weil es für sie die moderne Form der Nahrungsversorgung darstellt. Bisher ist die Nahrungsproduktion in China ja eher kleinbäuerlich und traditionell organisiert.

Doch auch die kleinen Bauern sind ganz groß im Chemie-Einsatz. Jetzt wird die Versorgung transformiert und modernisiert. Als Vorbild gelten die Vereinigten Staaten von Amerika, führend bei der Industrialisierung von Landwirtschaft und Nahrungsproduktion.

Die USA als Vorbild? Die Fast-Food-Nation, die sonst überall auf der Welt als Schreckbild gilt, modellhaft allenfalls für die massenhafte Verfettung der Bevölkerung?

Und die jetzt zum eher tragischen Trendsetter wird – bei der vorzeitigen Verkürzung des menschlichen Lebens.

Die USA, die sich doch eigentlich an der Spitze des globalen Zivilisationsprozesses sehen, stehen jetzt mit Ratlosigkeit und Zerknirschung vor ihren Statistiken, die die Umkehrung eines Trends ankündigen, der die letzten Jahrhunderte die Entwicklung der menschlichen Zivilisation begleitet hat: Die Verlängerung der Lebenserwartung.

Jetzt kippt der Trend, ausgerechnet in den USA.

Zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte droht die Lebenserwartung zu schrumpfen. Bei einzelnen Bevölkerungsgruppen hat der Prozess schon begonnen.

Seit längerem schon bilden die Amerikaner das Schlusslicht unter den entwickelten Nationen, sie liegen auf Platz 39 im weltweiten Langlebigkeits-Ranking, hinter Costa Rica, Chile und Kuba (Deutschland schaffte es immerhin auf Platz 22).

Jetzt fallen manche unter ihnen noch weiter zurück. So erreichen die schwarzen US-Bürger im District of Columbia, der Hauptstadtregion um Washington, gerade noch eine Lebensdauer von durchschnittlich 66,2 Jahren. Im Weltvergleich wäre das Platz 145, hinter dem Jemen, vor Indien.

Und die armen Weißen sind auch nicht viel besser dran: weiße Männer ohne High-School-Abschluss leben nur noch durchschnittlich 67,5 Jahre.

Als Ursache sehen die Experten, natürlich, unter anderem das Übergewicht an, Fast Food, Soft Drinks, die Grundnahrungsmittel vieler Amerikaner.

Die Chinesen hingegen, obwohl sie immer noch als Entwicklungsland gelten und im Weltvergleich beim sogenannten Human-Development-Index auf Platz 101 stehen, liegen bei der Lebenserwartung mit 73,7 Jahren relativ weit vorn, gleichauf mit Brasilien, der Türkei und dem weit höher entwickelten Saudi-Arabien (Index-Platz 57).

Sie ernähren sich ja immer noch sehr traditionell,die Chinesen, viel Gemüse, Bohnen, Auberginen, Blumenkohl, überraschend wenig Hund, gern Nudeln, viel Suppe, wie in meinem Lieblingsrestaurant hier, vorne an der Kreuzung, wo die Straße doppelstöckig verläuft und die Hygiene, naja, so mittelmäßig ist: der Smiley von der Lebensmittelkontrolle, der neben der Kasse hängt, hat die Lippen zusammengekniffen, was bedeutet: Geht so.

Bei der Lebensdauer kann es in China natürlich auch noch aufwärts gehen. In Hongkong, wo sich chinesische Nahrungstraditionen, chinesischer Lebensstil und westliches Entwicklungsniveau verbunden haben, erreichen die Menschen im Durchschnitt genau 83,0 Jahre. Platz zwei unter den Nationen dieser Welt, hinter Japan.

Nicht auszudenken, wie lange wir leben können, wenn das Essen nicht nur so gut ist und so vielseitig wie bei den Chinesen, sondern auch noch sauber, und die Tiere glücklich wären, artgerecht und chemiefrei aufgezogen.

Hier in Shanghai gibt es jetzt immerhin schon einen Bio-Laden, im französischen Viertel, jenem Stadtteil aus der Kolonialzeit mit kleinen Straßen, vielen Bäumen, zweistöckigen Häusern, Boutiquen und Restaurants, Thais, Italiener. Hier leben die Ausländer gern und bessergestellte Chinesen, sie gehen auch in diese Öko-Oase, einen ganz schicken Laden, „Green and Safe“ heißt er, mit Restaurant und Café, wo die Mütter ihren Latte Macchiato trinken und die Männer den französischen Wein kaufen.

Es gibt Gemüse von Farmen aus der Umgebung von Shanghai, tiefgefrorenes Fleisch, und Eier und Milch und sogar Baguette.

Ob das alles wirklich bio ist? Die Chinesen sind da natürlich skeptisch.