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01.06.2016

DR. WATSON Kommentar

Turbokuh im Modellstall: Keine Hörner, kein Freigang, aber dreimal am Tag Melkstress für Billigmilch bei Aldi.
Maike Ehrlichmann

Milch: Der Gipfel der Perversion

Von Kühen, Bauern und dem Wert eines modernen Getränks

Es ist wieder Milchkrisenzeit. Bauern stehen vor dem Ruin, baden schon unter Protest in ihrem Produkt. Merkwürdigerweise geht es in den Debatten stets um den Preis der Milch, nicht aber um ihren Wert. Oder die Zusammenhänge zwischen Massenmilchproduktion und Gesundheitsproblemen, von Akne über Krebs bis zur Zuckerkrankheit Diabetes. Doch die Medien spotten lieber über die Laktoseintoleranz als Leiden der Saison.

Zuerst ist das Schloss zu sehen, ein schönes gelbes, davor Rasen, auf dem edle Pferde grasen. Weiter hinten dann die Ställe, groß wie Flugzeughangars. Darin die Kühe, über 2000 sind es insgesamt, hornlos, wie es jetzt modern ist – damit man mehr zusammenpferchen kann.

Zusammen produzieren sie hier 55.000 Liter Milch – am Tag, für Aldi, Lidl und andere. Sie haben sogar einen eigenen Tankwagen, silbern glänzend steht er auf dem Hof, ganz in der Nähe der Krankenstation, die es hier auch gibt, für die armen Kühe, die krank werden unterm Produktionsstress. Schließlich werden ihre Zitzen hier dreimal täglich angezapft.

Willkommen auf Schloss Hohen Luckow, 20 Kilometer südwestlich von Rostock. Für die deutsche Bundesregierung ist das einer der Vorzeigebetriebe.

Es ist ganz ohne Zweifel ein sehr moderner Betrieb hier, beispielhaft für die Perfektion, mit der die moderne Milch produziert wird - in irren Mengen, und mit ruinösen Folgen für viele der Beteiligten.

Jetzt reden alle vom Preis der Milch. Doch wie steht es eigentlich um ihren Wert? Merkwürdigerweise wird diese Frage, die ja eigentlich im Zentrum des Interesses stehen sollte, derzeit auch von den sogenannten Qualitätsmedien weiträumig umgangen.

Gibt es einen Zusammenhang zwischen dem Preisverfall, Massenproduktion und Wertminderung? Zunehmend warnen ja sogar Wissenschaftlern vor möglichen Gesundheitsrisiken der Milch.

Früher galt Milch als gesund, für die Knochen, zum Beispiel. Heute fürchten sich die Leute vor Laktoseintoleranz. Schlimmer noch: Für eine ganze Fülle von Leiden soll sie verantwortlich sein, von Alzheimer bis zur Zuckerkrankheit Diabetes. Die Milch ist in Verruf geraten, genauer: die Milch aus dem Supermarkt, die moderne Industriemilch.

Mit dem Urprodukt der Kuh, das die Menschen seit Jahrtausenden kennen, hat sie gerade noch die Farbe gemeinsam: weiß. Mit Natur hat es kaum noch etwa zu tun.

Mit natürlichen Mitteln sind diese Massen nicht zu produzieren. Deshalb werden die Kühe mit Kraftfutter vollgepumpt, was ihnen auf den Magen schlägt, der ja eigentlich für Gras ausgelegt ist.

Doch nicht nur die Kuh leidet, sondern auch der Nährwert der Milch, und schließlich der Mensch. Vor allem seine Laune. Denn durch die artwidrige Turbofutter fehlen ausgerechnet die Stoffe, die stimmungsaufhellend wirken können, unter anderem: die sogenannten Omega-3-Fette.

Ein solches Produktionssystem, das zu stetig sinkender Qualität führt, ist natürlich der Gipfel der Perversion. Doch stattdessen veranstaltet der zuständige Minister einen sogenannten Milch-Gipfel, mit den Profiteuren dieser Produktionsweise – und unter weiträumiger Umgehung der Qualitätsfrage.

Das ist der eigentliche Skandal: Dass der Wert der Milch gar nicht zur Debatte steht. Dabei bedroht der herrschende Gigantismus sowohl die Gewinne der Bauern als auch die Gesundheit der Konsumenten.

Weniger wäre mehr. Wäre wertvoller. Und gesünder. Auch fürs Konto des Bauern.

Doch die Bauern produzieren weiter auf Teufel komm raus, pressen aus ihren Kühen das Letzte heraus – und liefern immer noch mehr, und immer noch minderwertigere Ware ab. Die Menschen wenden sich ab, konsumieren noch weniger. Das wiederum ruiniert noch mehr Bauern.

Und das soll eher noch so weitergehen.

Big is beautiful – so sieht das die aktuelle Politik, und in den Medien gibt es dafür regelmäßig Beifall. Sogar die kleine „Tageszeitung“ (taz), die eigentlich als kritisch gilt, bejubelt den Trend zum Gigantismus, und behauptet: „Kleine Höfe behandeln ihre Tiere auch nicht automatisch besser.“

Auch ein Schlossherr kann ja ein guter Mensch sein: „Ein kleiner Hof kann Tiere quälen, ein großer die Natur schützen. Es kommt auch auf die Einstellung an, auf das Know-how. Hektarangaben oder Tierzahlen haben wenig zu bedeuten.“

Das ist natürlich dummes Zeug.

Es ist vollkommen klar, dass die Massenhaltung dieser Tiere auch Folgen hat. Für die Gesundheit der Tiere. Aber auch der Menschen.

Beispiel Freigang. Kühe fressen bekanntlich von Natur aus Gras. Die hier im Modellbetrieb mit über 2000 Kühen aber grasen natürlich nicht.

Dürfen die überhaupt mal raus auf die Weide, hier auf die Wiesen rund ums Schloss?

„Nein“, sagt Karin Holland, die Frau des Verwalters, so stellt sie sich vor.

Das Gras würde gar nicht reichen, für die vielen Kühe. Außerdem trampelten die Kühe gleich die Wiese kaputt. Und schließlich sei die Silage zum optimalen Zeitpunkt geerntet, das Gras hingegen sei von wechselnder Qualität. Kurz: Die Kühe würden das eigentlich gar nicht wollen.

Die Wahrheit ist: Der Laden hier ist viel zu groß, um noch gesunde Milch zu produzieren. „Je größer die Betriebe werden, desto weniger Weidegang für die Kühe.“ Sagt Professor Folkhard Isermeyer, Präsident des Thünen-Instituts und damit der oberste Agrarforscher Deutschlands.

Wenn die Kühe nicht auf die Weide dürfen, dann enthält die Milch allerdings auch weniger von den berühmten Omega-3-Fetten. Die sind wichtig fürs Herz, für die Sehkraft für die Psyche, auch für die Geistesleistung. Und die Laune. Und weniger sogenannte CLA-Fette. Die sollen sogar schlank machen.

Leider ist die deutsche Bundesregierung trotzdem auf der Seite solcher Milchkombinate. Das Thünen-Institut jedenfalls als zuständige Landwirtschafts-Fachanstalt der Regierung bevorzugt derlei Methoden. Also das, was bis vor kurzem als Fortschritt galt: Expansion, Export, mehr Gigantismus.

Und daher hat das Institut den Riesenbetrieb bei Rostock als Modell-Einrichtung ausgesucht, für den Jahreskongress der „European Dairy Farmers“ (EDF) im vorigen Jahr, den die Behörde auch organisiert hat: Chef Isermeyer hat sogar den Verein mitgegründet.

Es ist sozusagen die Avantgarde der Milcherzeugung. Und so kamen fortschrittliche Farmer aus ganz Europa zur Besichtigung aufs Milch-Schloss nahe der deutschen Ostsee.

Was sie da gesehen haben: Sie werden in der neuen Zeit gar nicht mehr gebraucht. Es gibt hier ja keinen Bauern, sondern einen Schlossherrn, der auch eher ein Investor ist.

Gekauft hat es der Milliardär Adolf Merckle, nach dessen aufsehenerregendem Selbstmord im Jahr 2009 hat es Sohn Ludwig übernommen. Karin Holland gehört zur Familie. Und die zählt zu den reicheren in Deutschland, ihr gehörte die Arzneimittelfirma Ratiopharm.

Manche mögen nun spotten über mögliche Synergie-Effekte zwischen Pharmabusiness und Viehhaltung. Oder man könnte ganz ernsthaft Zusammenhänge untersuchen zwischen Massenproduktion und Minderqualität. Schließlich ist die Milch ja neuerdings sehr in Verruf geraten.

Merkwürdigerweise aber spotten manche Medien, sogar ausgerechnet die sogenannten Qualitätsmedien, lieber über die wachsende Zahl der Milch-Opfer mit ihrem „attraktiven Leiden“ wie der sogenannten Lactose-Intoleranz.

Zwar ist auch ihnen nicht entgangen, dass Milch mittlerweile als Quell eines ganzen Sortiments von Krankheiten gilt, angefangen von Akne über Bluthochdruck bis zu manchen Krebsarten sowie der Zuckerkrankheit Diabetes.

Der Medizinprofessor Bodo C. Melnik von der Universität Osnabrück sieht in Milch sogar ganz allgemein einen „Förderer von chronischen westlichen Krankheiten“ .

Kurz: Die Milch ist „für immer mehr Menschen der Feind“. Konstatieren die Qualitätsjournalisten.

Aber sie können Entwarnung geben: Alles halb so wild. Und dafür genügt ihnen ein einziger Anruf: Bei Professor Gerhard Rechkemmer zum Beispiel. Der ist der oberste staatliche Ernährungsforscher Deutschlands: Präsident des Bundesforschungsinstituts für Ernährung und Lebensmittel in Karlsruhe, dem Max-Rubner-Institut (MRI) und deshalb beliebter Gesprächspartner bei Journalisten.

Was sie dabei nicht so stört, ist der Umstand, dass ihr Interviewpartner zugleich hoher Funktionär einer Industrie-Lobbytruppe ist (siehe DR. WATSON NEWS vom 1. März 2012), Seite an Seite mit Vertretern des weltgrößten Molkereikonzerns Nestlé, von Arla, dem Milch-Giganten aus Dänemark, auch von FrieslandCampina aus Holland, vom „Fruchtzwerge“- Konzern Danone, und den neuen großen Milchproduzenten Pepsi und Coca-Cola („Fairlife“).

Sie sind Mitglieder beim Lobbyverband International Life Sciences Institute (Ilsi); der oberste staatliche Ernährungsforscher Deutschlands sitzt im Verwaltungsrat („Board of Directors“) von Ilsi Europe und sogar im weltweiten Aufsichtsrat („Board of Trustees“),.

Der zunehmenden Milchkritik möchte er sich naheliegenderweise eher nicht anschließen, und diktierte den Qualitätsrechercheuren von „Spiegel Online“ auch gleich, warum: „Das sind zum Großteil aus alternativ-medizinischen Kreisen gestreute Falschinformationen, für die es keine wissenschaftliche Grundlage gibt.“

Und gegenüber den Qualitätskollegen der „Süddeutschen Zeitung“ vermutete er gar irrationale Umtriebe: "Mein Eindruck ist, dass man diese Milieus mit logischen und wissenschaftlichen Argumenten nicht mehr erreicht."

Das ist natürlich Quark, was Rechkemmer da sagt: Schließlich kommt Kritik an der modernen Industriemilch unter anderem von Wissenschaftlern der renommiertesten Forschungsstätte der Welt: Der Harvard Medical School in Boston im US-Staat Massachusetts.

Die empfiehlt ganz offiziell, den Konsum von „Milchprodukten auf ein bis zwei Portionen am Tag zu reduzieren, weil ein höherer Verzehr mit einem erhöhten Risiko für Prostata- und Ovarialkarzinome einhergeht“. Ovarialkarzinom, das ist der Eierstockkrebs.

Die Harvard-Forscherin Davaasambuu Ganmaa fand ein erhöhtes Krebsrisiko bei Milchtrinkern, als sie den Zusammenhang zwischen Ernährungsgewohnheiten und Krebsraten in 42 Ländern untersuchte. Am höchsten waren die Krebsraten in traditionellen Käsenationen wie der Schweiz und in Dänemark.

Aber: Daran ist wohl nicht die Kuh schuld, sondern die Industrie, die die Milch so verändert hat, dass sie zum Problem werden kann.

„Die Milch die wir heute trinken, ist eine ganz andere als die, die unsere Vorfahren getrunken haben“, sagt Medizinerin Ganmaa. Die Gastwissenschaftlerin an der Harvard Universität, die aus der Mongolei stammt, hat festgestellt, dass die Frauen in ihrer Heimat viel seltener Brustkrebs haben als ihre Geschlechtsgenossinnen in Großbritannien – obwohl sie sehr viel Fleisch und Milch zu sich nehmen.

Schon der Produktionsstress, unter dem die Kuh in den Milchfabriken steht, verändert die Inhaltsstoffe der Milch. Denn er erhöht zum Beispiel den Hormongehalt. „Hormone in der Milch können gefährlich sein“, titelte die Harvard University Gazette in einem Artikel über die Forschungsergebnisse der mongolischen Gastwissenschaftlerin.

Die moderne Milch muss ganz anderen Anforderungen genügen als jene, die den Menschen seit Jahrtausenden begleitet hat. Die moderne Milch muss ja, zum Beispiel, weltmarktfähig gemacht werden. Und dafür eignet sie sich von Natur aus leider gar nicht. Sie wird ja sauer. Eine ganz unpassende Eigenschaft auf dem Weltmarkt.

Also muss die Milch passend gemacht werden. Pulverisiert, zum Beispiel. Oder wenigstens erhitzt. Die Qualität verändert sich dabei natürlich. Oder besser: Sie verschwindet.

So werden durch die Erhitzung wesentliche Inhaltsstoffe zerstört, die beispielsweise wichtig sind fürs menschliche Immunsystem. Schon bei der normalen Pasteurisierung, mehr noch bei der sogenannten ESL-Milch, die ein paar Wochen hält, vor allem aber bei der H-Milch, die der frühe Milchkritiker Max Otto Bruker als „Totmilch“ geschmäht hat.

Auch die Homogenisierung, also die gleichmäßige Verteilung der Fettkügelchen, verändert die gesundheitliche Qualität des Produkts, erhöht womöglich das Allergierisiko.

Dabei ist die echte Milch nachweislich gesund. Und das bedeutet: Die Milch ab Kuh. Hergestellt auf einem echten Bauernhof. Das zeigen Berge von Studien über die Rohmilch.

Von dieser äußerst gesunden Rohmilch raten indessen alle Experten ab. Bakteriengefahr. Es sind zwar keine Vorkommnisse zu vermelden unter den Bauerskindern, die in den Studien die heimische Rohmilch bekommen haben. Auch zapfen viele Milchpuristen die favorisierte Flüssigkeit direkt in Milchtankstellen ab Hof ab.

Aber es muss gar nicht gleich Rohmilch sein. Es gibt ein weites Spektrum, eine klare Hierarchie zwischen der wertvollen Rohmilch ab Kuh und der ultrahocherhitzten „Totmilch“ aus dem Aldi.

Ganz weit oben steht zum Beispiel die Milch des Öko-Verbandes Demeter, bei dem die Kühe sogar ihre Hörner noch behalten dürfen und die Milch nicht homogenisiert wird.

Überflüssig zu sagen, dass die Demeterleute auch keine Existenzsorgen kennen.

So schreien sie nicht nach Milliardengeschenken vom Steuerzahler, wie die Bauerverbands-Funktionäre. Oder betteln an der Supermarktkasse, wie in Schweden: Dort können die Kunden ein Bauern-Opfer geben, und zehn Cent spenden, für die notleidende Branche.

Für uns Kunden wäre es sicher besser, sie würden einfach das produzieren, was die Leute gern haben möchten. Echte Milch, von Kühen, die grasen dürfen, ohne mit Soja-Kraftfutter vollgepumpt zu werden.

Die würden dann endlich weniger Milch geben, wodurch die ruinöse Überproduktion gestoppt würde. Dann hätte die Bauern auch wieder mehr Kohle auf dem Konto.

Und für uns Konsumenten gäbe es gesündere Milch, für die wir gerne ein paar Cent mehr bezahlen.

Auf den Staat sollten sie sich lieber nicht verlassen; der steht leider eher auf der Seite der Schlossherren.

Mehr über die Milch und die Gesundheitsfrage:

Hans-Ulrich Grimm:
Die Fleischlüge - Wie uns die Tierindustrie krank macht.
Droemer Knaur, 2016
ISBN: 978-3-426-27641-9
336 Seiten, 18 Euro
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