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28.03.2019

DR. WATSON News


Im Paradies der Gleichberechtigung

Echtes Essen statt Anti-Aging-Mythen: Das neue Buch von Hans-Ulrich Grimm

Für immer jung: Da kursieren viele Mythen und falsche Versprechungen. Über die Macht der Medizin, oder der Gene, des Geldes, des Geschlechts. Bei den Menschen in der „Blauen Zone in Sardinien“, wo die vielen fitten Hundertjährigen leben, sieht alles ganz anders aus. Hans-Ulrich Grimm unterhielt sich mit Professor Gianni Pes über die Geheimnisse des glücklichen Alterns – und es wurde ein Gespräch mit Überraschungen.

Zum Beispiel beim „Gender Gap“: der Geschlechterlücke ganz hinten im Leben. Die gibt es in der „Blauen Zone“ nicht. Das hier ist ein Paradies der Gleichberechtigung. Nirgendwo sonst auf diesem Planeten gibt es unter den Hundertjährigen exakt genauso viele Männer wie Frauen.

Und noch eine Überraschung: Für ein langes und gesundes Leben braucht es nicht unbedingt Hochleistungsmedizin. Eher im Gegenteil: Gesünder leben, das geht (am besten?) ganz ohne Arzt oder Apotheke.

Und man muss dafür nicht einmal besonders wohlhabend sein.

Das war die erste Überraschung: Die „Blaue Zone“ in Sardinien liegt gerade nicht dort, wo die Reichen leben, der berühmten „Costa Smeralda“, jener mondänen Milliardärszone auf Sardinien mit dem smaragdgrünen Meer, den Luxusyachten in den Buchten und der Rolls-Royce-Filiale direkt am Hafen. Sondern zweieinhalb Autostunden weiter im Süden.

Dabei gilt gemeinhin ja, dass Wohlhabende länger leben. Das haben viele Studien ergeben, das wusste auch Professor Pes, der mit blauem Stift jene Orte markierte, in denen die Leute besonders alt wurden.

Und er war umso überraschter, als er als Betrachten seiner blauen Markierungen feststellte, dass die meisten Hundertjährigen in einer ganz anderen Gegend leben.

Und zwar ausgerechnet dort, sagt Pes, wo »die Menschen eher arm waren, verglichen mit dem Rest der Insel, und erst recht mit dem italienischen Festland. Das scheint der Annahme zu widersprechen, dass die Langlebigkeit mit wachsendem Wohlstand zunimmt. Das ist aber in Japan ganz genauso, denn Okinawa ist die ärmste Region dort.«

„Man kann also auch länger leben, ohne reich zu sein.“

Professor Pes: »Es geht nicht darum, ob ich reich oder arm bin. Es geht um die Art, wie ich lebe. Die armen Leute bei uns leben in einer eher traditionellen Art und haben sich so Faktoren erhalten, die günstig sind für ein langes Leben. Sie essen traditionelles Essen, sie bewegen sich viel ...«

„... weil sie arbeiten müssen ...“

Professor Pes: „...sie haben auch nicht so viele Autos, auch die Landwirtschaft ist nicht so mechanisiert, erfordert also immer noch große Anstrengungen, für die Schäfer, für die Hirten, die viele Kilometer wandern müssen jeden Tag. Vergessen Sie nicht, dass in der Blauen Zone viele Menschen Schäfer und Hirten waren. Und sie gehen 20, 25 Kilometer am Tag. Im Durchschnitt.“

Sie leben auf einer entlegenen Hochebene, in kleinen Bergdörfern, manche auch am Meer, fernab einer modernen medizinischen Versorgung. Und das war auch so eine Überraschung: In der Blauen Zone ist das nächste Krankenhaus ziemlich weit. Oder auch die Apotheke, mit den Vitamin-Paketen. Und trotzdem leben die Menschen so lange. Oder müsste man sagen: Genau deswegen?

Professor Gianni Pes ist Mediziner, er muss es wissen. Und er sagt: „Ich glaube nicht an die medizinische Versorgung.“

„Aber Sie sind doch selbst Arzt, sogar Professor.“

Professor Pes: „Nein, nein, nein, darum geht es gar nicht. Ich glaube nicht, dass die medizinische Versorgung ein Erklärungsfaktor sein kann für das Phänomen der Langlebigkeit. Weil das einzige Krankenhaus, ein sehr kleines, 20 Kilometer weit weg ist von diesen Dörfern. Wenn also jemand erst mal einen Herzanfall hat, ist der in zwanzig Minuten tot. Deshalb glaube ich nicht, dass dieses verlängerte Überleben der Menschen in der Blauen Zone hier an einer besseren medizinischen Versorgung liegt. Die hat sich übrigens auch gar nicht verbessert, sie ist exakt die gleiche wie vor 30 oder 40 Jahren.“

Ein gesunder Mensch braucht keinen Arzt, sagen manche Mediziner. Ob jemand gesund ist, das hängt davon ab, wie die Lebensumstände sind. Und die sind in der „Blauen Zone“ offenbar äußerst günstig für ein langes und gesundes Leben, und zwar interessanterweise für Männer und Frauen. Hier herrscht Gender-Gerechtigkeit, wie das heute heißt.

Auch so eine Überraschung: Nirgendwo sonst auf der Welt werden Männer und Frauen gleichermaßen steinalt. Woran das liegt? Offenbar sind auch da weniger biologische Vorgaben entscheidend, etwa die Hormone, sondern wiederum die Lebensumstände.

Professor Pes: „Es geht darum, dass in der sardischen Blauen Zone die Proportion von Männern und Frauen unter den Hundertjährigen exakt gleich ist: Eins zu eins. Das ist absolut überraschend und einzigartig im Vergleich zu anderen Populationen. Wir sagen also, dass in unserer Blauen Zone hier die Geschlechterdifferenz bei der Langlebigkeit verschwunden ist. Wir haben dieses Gender-Gap, die Differenz bei der Lebenserwartung, überall sonst auf der Insel, aber je näher Sie der Blauen Zone kommen, um so mehr verschwindet dieser Unterschied.“

„Und warum?“

Professor Pes: „Eine Erklärung ist das Verhalten. Das traditionelle Verhalten der Männer und Frauen in der Blauen Zone war unterschiedlich, insofern als paradoxerweise das Leben der Frauen viel stressiger war als das ihrer Ehemänner.“

„Weil sie das Haus hüten und schützen mussten, notfalls mit der Waffe in der Hand...“

Professor Pes: „Genau. Sie müssen sich ja vorstellen, in den Dörfern war das männliche Element ja völlig verschwunden. Weil praktisch alle Männer ja draußen waren bei den Schafen. Das waren praktisch reine Frauendörfer. Die mussten sich mit der Verteidigung ihres Besitztums beschäftigen. Wenn Sie diese Bilder sehen von Frauen mit Waffen, mit dem Gewehr in der Hand, dann sehen Sie, dass das eine sehr harte Art von Gesellschaft war, in der Diebstahl zum Beispiel weit verbreitet war...“

„... die legendären Banditi...“

Professor Pes: „...die versuchten zum Beispiel, die Tiere zu stehlen. So mussten die Frauen immer wachsam sein, damit kein Eigentum verloren ging.“

„Wofür sonst traditionell eher der Mann zuständig war.“ Professor Pes: „Für die Frauen war das aber eine Art von Extra-Stress, der zum üblichen Familienstress noch dazukam. Sie waren allein mit ihren sechs Kindern, und hatten auch noch das zu tun, was normalerweise die Männer machen.“

„Das Gender-Gap ist also nicht verschwunden, weil die Männer länger leben, sondern die Frauen kürzer.“

Professor Pes: „Das ist eine der Hypothesen. Aber natürlich kann niemand mit Gewissheit sagen, das ist der Grund. Wir leben ja nicht in jener Vergangenheit, und haben deshalb nicht alle Informationen darüber.“


Echtes Essen: Der Anti-Aging-Kompass.

Das Buch, das die Wege zeigt zum längeren, gesünderen und glücklicheren Leben.

Was wir wissen müssen. Was zu tun ist. Und was wir lieber lassen. Wenn uns das Leben lieb ist.


Hans-Ulrich Grimm:
Echtes Essen. Der Anti-Aging-Kompass
Wie wir jünger und gesünder bleiben

Droemer Verlag 2019, 336 Seiten
ISBN: 978-3-426-27643-3
19,99 Euro