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Süßigkeiten

Kinder sind von Natur aus süchtig nach Süßigkeiten – denken die Eltern, weil das auch die Experten behaupten: Schließlich sei schon die Muttermilch süß. Leider falsch. Die Muttermilch ist nicht übermäßig süß. Und ein Sucht-Effekt entwickelt sich nur, wenn das entsprechende Angebot da ist, die Kinder allzu viel Süßes bekommen. Und dann zeigen sich auch die Folgen: Übergewicht, Zahnschäden, die Zuckerkrankheit Diabetes. Die schädlichen Wirkungen der Süßigkeiten wurden von den zuständigen Professoren und den Medien lange geleugnet. Mittlerweile ist klar, dass sie dem Gehirn schaden, das Verhalten stören und zu zahlreichen Krankheiten bis hin zu Krebs führen können.

 

Ein deutsches Kind verzehrt pro Jahr mehr Süßes, als es wiegt: 50,9 Kilo Süßwaren insgesamt. Davon 10,3 Kilo Kuchen, Kekse und Gebäck, 5,7 Kilo Eis, 3,6 Kilo Schokolade, Riegel und Pralinen, 3,3 Kilo Zuckerwaren wie Bonbons, Gummibärchen, Lollis, 3,2 Kilo süße Brotaufstriche wie die Nuss-Nougat-Creme Nutella. Und 23,3 Kilo süße Softdrinks. Das kam bei der „Donald“-Studie des Dortmunder Forschungsinstitutes für Kinderernährung heraus.

 

Purer Zucker pro Kind und Tag: unglaubliche 114 Gramm.

 

Die zuständigen Professoren verharmlosten, ja leugneten die Gefahren des süßen Tsumani über Jahrzehnte. Zum Beispiel bei einer Konferenz zum Thema »Süßwaren in der modernen Ernährung« im Jahre 1998 in Freiburg. Veranstalter war die Deutsche Akademie für Ernährungsmedizin, die Organisatoren waren führende Köpfe der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE).

 

Ergebnis: Es gebe »keinen Zusammenhang zwischen dem derzeit üblichen Zucker- und Süßwarenkonsum und irgendwelchen Erkrankungen«, so das Fazit im Tagungsband. Mehr noch: Ungesund sei, so finden sie, vor allem die Abneigung gegen Süßes: »Würden Süßwaren nicht fälschlicherweise als ›ungesund‹ eingestuft, gäbe es vermutlich auch keinen Heißhunger auf Süßigkeiten.«

 

Im gleichen Band bekundet der einflussreiche Professor Volker Pudel, kurz zuvor noch Präsident der DGE, es gebe »überhaupt keinen Hinweis, dass der Verzehr süßer Nahrungsmittel mit dem Übergewicht in Beziehung steht.« Im Gegenteil. Dicke Menschen nähmen gerade wenig Süßes zu sich, so Pudel.

 

Das Ergebnis war ganz im Sinne der Sponsoren: Die Tagung in Freiburg wurde veranstaltet »mit freundlicher Unterstützung des Lebensmittelchemischen Institutes der Deutschen Süßwarenindustrie«.

 

Auch in den USA kämpften die Professoren, mit Unterstützung der Zuckerindustrie, lieber gegen das Fett.

 

Und so konnte sich, ungebremst von gesundheitlichen Warnungen, die Zuckerquote immer weiter steigern. Vor 30 Jahren naschten 74 Prozent der amerikanischen Kinder regelmäßig Süßgebäck oder Snacks, jetzt sind es so gut wie alle: 98 Prozent.

 

Hierzulande vergeht bei vielen Kindern ebenfalls kein Tag ohne Süßes. 

 

Warum aber sind die Kinder so gierig auf Süßes? Die offizielle Version lautet: Kinder wollen Süßes, weil schon die Muttermilch süß ist. „Den meisten Kindern kann es gar nicht süß genug sein. Das hat die Natur so eingerichtet“, glaubt zum Beispiel die Süddeutsche Zeitung. Der Münchner Professor Koletzko behauptet: „Das ist nicht anerzogen, sondern gilt für Kinder aus allen Kulturkreisen.“

 

Das ist nachweislich falsch. Erstens ist die Muttermilch nur dann süß, wenn die Mutter ihrerseits viel Süßes isst. Die Muttermilch muss die Kinder ja auf die Nahrung vorbereiten, die es gibt. Und in Kulturkreisen, in denen es nichts Süßes gibt, kann die Mutter nichts Süßes essen, und die Kinder müssen auch nicht auf so etwas vorbereitet werden.

 

In Weltgegenden wie zum Beispiel Grönland oder Alaska, wo es klassischerweise keine Ananas und keine süßen Himbeeren gibt, aber viel Walfischspeck, haben die Menschen schon gar nicht die organhafte Ausstattung zur Verarbeitung von Süßem.

 

Ihr Körper ist sozusagen taub für Zucker, er kann ihn nicht einmal richtig transportieren, weil ein „Glukosetransporter“ namens GLUT-4 unterentwickelt ist. Das hatten Forscher um Torben Hansen von der Universität Kopenhagen herausgefunden, in einer Studie, die im weltweit wichtigsten Wissenschaftsjournal Nature erschienen ist. Wozu auch einen Transporter, wenn es nichts zu transportieren gibt? Wenn es jeden Tag Walfischspeck gibt und niemals süße Himbeeren?

 

Und selbst wenn es süße Früchte gibt, wollen die Kinder sie keineswegs unablässig haben. Das hat die amerikanische Kinderärztin Clara Davis gezeigt, bei ihren legendären Versuchen, in denen Kinder selbst wählen durften, was sie essen und trinken möchten.

 

Die Nahrungsmittel, die sie anbot, waren vielfältig, aber das einzig Süße war Obst. Davon allerdings nahmen die Kinder nicht so übermäßig viel. Was wiederum zeigt, dass sie von sich aus gar nicht so wild auf Süßes sind.

 

Zucker wurde nicht zugelassen“, sagte die Kinderärztin zu ihrem Publikum am 21. Juni 1939, in ihrer berühmten Rede im Windsor Hotel in Montreal. Das war die Vorgabe: „Die Liste sollte nur natürliche Lebensmittel enthalten“, und puren Zucker oder daraus hergestellte Süßigkeiten kennt die Natur nicht.

 

Bei uns in Mitteleuropa war Obst früher die Energiequelle. Die aber sprudelte damals nur im Sommer und Herbst, deshalb war es sinnvoll, dass der Körper davon möglichst viel aufnimmt. Und darum war auch eine gesteigerte Sensibilität gegenüber dem Süßen sinnvoll, sagt die Suchtforscherin Magalie Lenoir von der Universität Bordeaux.

 

Sie führt das „suchterzeugende Potenzial des intensiven Süßgeschmacks“ auf eine „angeborene Überempfindlichkeit gegenüber süßen Geschmacksrichtungen“ zurück. Die Ratten in ihren Versuchen hatten darauf sogar stärker reagiert als auf Kokain.

 

Die Genussfähigkeit ist im Gehirn angelegt: an jenem Ort, wo die schönen Gefühle entstehen, das Wohlbehagen beim Genießen. Dort wirkt der Zucker, der süße Geschmack. Er stimuliert, ähnlich wie Drogen, dort tief im Inneren des Gehirns, das sogenannte mesolimbische System, im Bereich einer Zone namens Nucleus accumbens, den die Forscher das „Belohnungszentrum“ nennen.

 

Solange es nur wenig Süßes gibt, gibt es auch keine Suchtgefahr, so die Studie von Forscherin Lenoir und ihren Kollegen. Erst die „übermäßige Stimulation“ der Rezeptoren durch eine zuckerreiche Ernährung infolge des überreichen Angebots an Süßem in modernen Gesellschaften führe zu „übermäßigen“ Hirnreaktionen, die die Selbstkontrollmechanismen „überrollen und so zur Sucht führen“ könnten.

 

Und viele Kinder sind tatsächlich süchtig nach Süßem: Bei einer türkischen Studie aus dem Jahr 2015 waren es 71 Prozent von genau 100 dicken Kindern. An der Spitze: Schokolade. Auf den weiteren Plätzen: Eis, Süßgetränke.

 

Also: Es ist das Angebot, das süchtig macht nach Süßigkeiten.

 

Problematisch ist bei Süßigkeiten nicht nur der Zuckergehalt. Problematisch sind auch die Farbstoffe, insbesondere die sogenannten Azofarbstoffe: Sie können zu Hyperaktivität und Lernstörungen beitragen (ADHS; Southampton Six).

 

Manche Süßigkeiten können beispielsweise, von Natur aus oder als Zusatz in den Farbstoffen, das Leichtmetall Aluminium enthalten, das wie ein weibliches Geschlechtshormon wirkt.

 

Insgesamt nehmen Kinder unter drei Jahren mit hohem Süßigkeitenkonsum nach einer Studie der EU-Kommission bis zu 560 Milligramm Farbstoffe am Tag zu sich. In Kaugummis und anderen Süßigkeiten, die als »zuckerfrei« angepriesen werden, können umstrittene Nahrungszusätze enthalten sein. Denn auch Zuckeraustauschstoffe wie Fruktose, Sorbit (E420) und Süßstoffe wie Aspartam (E951) oder Saccharin (E954) sind nicht immer frei von Nebenwirkungen.