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Verbrauchertäuschung

Eigentlich ist die Täuschung der Verbraucher in Europa offiziell immer noch verboten. Zuwiderhandlung kann sogar mit Gefängnis bestraft werden. Die Details aber bestimmen die Gesetze. Und so bleibt das moderne Fälschen von Lebensmitteln im großen industriellen Stil dank passender Gesetze straffrei. Die dazu nötigen Täuschungspraktiken sind sogar völlig legal, dank passender Regeln, erlassen von der zuständigen Institution der Vereinten Nationen, dem Codex Alimentarius. So dürfen straflos Farbstoffe eingesetzt werden, die Produkte wertvoller und appetitlicher erscheinen lassen sollen, als sie sind. Es gibt Aroma und Geschmacksverstärker, auch Süßstoffe, die den Geschmack manipulieren sollen, oder sogar "maskieren", wenn die Zutaten in Wahrheit zu bitter oder überhaupt unangenehm schmecken. Ermöglicht wird dadurch unter anderem jene ultra-verarbeitete Nahrung, die in zunehmendem Maße die globale Gesundheit gefährdet, Fast Food, Fertignahrung,  Softdrinks, für die es in der Welt der echten Lebensmittel gar keine Entsprechung gibt und für die der menschliche Stoffwechsel keine Verarbeitungsschemata entwickelt hat.

 

Die nötigen Zusatzstoffe, mit denen die Verbraucher an der Nase herum oder hinters Licht geführt werden, wurden von der Europäischen Union sogar noch begrifflich geadelt, die einstigen „Gifte“  wurden befördert zu „Stoffen zur Verbesserung von Lebensmitteln" (Food Improvement Agents), ausdrücklich legalisiert in einem ganzen Gesetzespaket (Food Improvement Agents Package, kurz FIAP).  

 

Dazu gehört beispielsweise das industrielle Aroma, das gar keinen anderen Daseinszweck hat als die Täuschung der Verbraucher. Ganz ähnlich die Farbstoffe, mit denen eine Qualität vorgegaukelt wird, die das Produkt aufgrund seiner Zutaten nicht hat.

 

Der Frankfurter Rechtsgelehrte Professor Wolf Paul sah in der massenhaften Geschmacksmanipulation einen Angriff auf die »kulinarische Selbstbestimmung« des Menschen. Die Esser glauben, sie verleibten sich Früchte, Fleisch, Schokolade ein, in Wahrheit sind es bloß chemische Stellvertreter der Genüsse. Der Leib geht leer aus, wird irregeleitet. Das aufgeklärte Individuum, das doch so viel Wert auf Freiheit und bewusstes Handeln legt, lässt sich an einem überaus zentralen Punkt des Daseins überlisten und bevormunden: bei der Nahrungsaufnahme. Und das auch noch völlig legal.

 

So ist etwa die Geschmacksfälschung durch Aroma nach offizieller EU-Meinung keine Verbrauchertäuschung, weil auf dem Etikett das »Aroma« deklariert sei. So sei der Verbraucher über den Täuschungsvorgang informiert und werde mithin nicht betrogen.

 

Ganz anders war das in früheren Zeiten, als der Schutz der Konsumenten vor Gefährdung und auch Täuschung höchste Priorität besaß für die Politik.

 

Im Mittelalter beispielsweise schritt die »Obrigkeit« gegen Täuschungen und Fälschungen gerade bei Lebensmitteln mit aller zu Gebote stehenden Macht ein, weil sie als Betrug am Bürger galten, aber auch als Gesundheitsrisiko.

 

Die Branche war damals noch ganz traditionell strukturiert. Für Bäcker, Metzger, Wirte und Weinhändler wurde eine Fülle von Regeln und Vorschriften erlassen zum Schutz der Bevölkerung vor betrügerischen Praktiken, die es natürlich auch damals schon gab.

 

So neigten Bäcker damals dazu, bei der Größe ihrer Backwaren zu schummeln. Sie nahmen Gips oder Ton, um das Brot schwerer zu machen. Weil helleres Brot als wertvoller galt, färbten sie es mit Kreide, gemahlenen Knochen oder auch giftigen Substanzen wie Blei und Alaun. Seit dem 18. Jahrhundert wurde es auch mit chemischen Mitteln, etwa Chlor, gebleicht.

 

Es gab auch eine Art von, sozusagen, doppelter Teigführung. Da buken die Bäcker zwei verschiedene Sorten Brot: Die eine entsprach genau den gesetzlichen Gewichtsvorgaben und wurde dem Kontrolleur vorgezeigt, eine andere wurde an die Kunden verkauft. Die war dann etwas leichter. Auch an Feiertagen wurde leichteres Brot gebacken, weil die Brotkontrolleure an diesen Tagen frei hatten. In jenen strengen Zeiten galt es sogar als Betrug, wenn alte Semmeln aufgebacken und als frische verkauft wurden.

 

Auch Wein zählte damals zu den Grundnahrungsmitteln und wurde streng kontrolliert. Überwacht wurde die ganze Lieferkette, von den Winzern über die Händler bis zu den Wirten. Unangemeldete Besuche von »Weinvisierern«, beispielsweise in Köln, sollten Fälschungsmittel sicherstellen.

 

Es war damals »klar«, sagt die österreichische Historikerin Bettina Pferschy-Maleczek, dass die »Gerichtsbarkeit das Weinpanschen verbot: Man sah es als Verfälschung des Weins an. Als Betrug oder Diebstahl, da man sich dadurch am Geld des Käufers vergriff.«

 

Die Obrigkeit in den Städten stellte lange Listen verbotener Stoffe auf. In Ulm beispielsweise standen Ende des 15. Jahrhunderts Kalk, Senf und Speck auf der schwarzen Liste. Auch Scharlachkraut, Birnen- oder Apfelmost sowie Bleiweiß, Quecksilber, Springkraut und Vitriol durften Nahrungsmitteln nicht zugesetzt werden. Viele der Hilfsmittel wurden üblicherweise in einem Säckchen in den Wein gehängt und später wieder entfernt.

 

Schwierig war natürlich die Überwachung der Verbote mangels chemischer Methoden etwa zur Bestimmung des Wassergehalts im Wein. Oft konnten, sagt die Betrugsforscherin Pferschy-Maleczek, die Verfehlungen nicht nachgewiesen und mithin nicht bestraft werden: »So musste man auf die göttliche Gerechtigkeit vertrauen und hoffen, dass die Übeltäter im Jenseits ihre Strafe finden würden«, wie zum Beispiel »nächtliches elendigliches Umgehen«.

 

Doch manche Verfehlungen wurden nachgewiesen – und gleich im Diesseits geahndet. Betrügerische Bäcker etwa mussten die »Bäckertaufe« über sich ergehen lassen, auch »Brottaufe« oder »Schupfen« genannt. Sie wurden in einen Käfig gesteckt und zur Strafe und zur Belustigung des Publikums in den örtlichen Fluss getaucht. Im elsässischen Straßburg war es die Ill, in Wien die Donau, wobei es im Jahr 1550 sogar zu einem Todesfall kam. Auch am sogenannten Bäckergalgen, an den Brotbetrüger gehängt wurden, kam mancher zu Tode, wenngleich nicht absichtlich.

 

Auch die Weinpanscherei wurde verfolgt und bestraft: mit Geldstrafen, mit Ausweisung aus der Stadt, Schließung des Kellers, Entzug der Schankerlaubnis – oder sogar martialischeren Methoden wie in Rothenburg ob der Tauber, wo im Jahre 1382 festgesetzt wurde, dass nicht nur der verfälschte Wein verloren sein solle, sondern auch die Hand, die ihn gemacht habe. Im oberschwäbischen Ravensburg wurde im Jahre 1486 ein gewisser Martin Geßmeister sogar wegen Weinverfälschung enthauptet.

 

Die Strenge hat Gründe: Wein war damals vielerorts ein Grundnahrungsmittel, verständlich angesichts verseuchter und verschmutzter Trinkwasserbrunnen. Die Konsequenz war schon damals: die Forderung nach absoluter Natürlichkeit. So sah etwa in Frankfurt am Main im Jahre 1419 die entsprechende Bestimmung vor, »dass niemand einen Wein anders bereiten sollte, als Gott der Herr ihn hat wachsen lassen« (»das nymand keinen win macher und bereiden sulle anders, dan in got der herre hat lassen wassen«).

 

Die strengen Sanktionen sollten dazu beitragen, die körperliche Unversehrtheit zu schützen. Das Lebensmittelrecht ist schließlich eine Angelegenheit von existenzieller Bedeutung. Schutz vor Betrug ist zugleich Schutz der Gesundheit. Damals waren die Folgen ganz direkt und augenfällig: Koliken, Krämpfe, Magenverstimmung, bei Frauen waren unter anderem neben Unfruchtbarkeit auch Fehlgeburten die Folge.

 

Mittlerweile haben die Tricksereien ganz andere Folgen. Übergewicht zum Beispiel, das sich schon zur weltweiten Pandemie ausgewachsen hat,  inklusive der damit einhergehenden  »nichtübertragbaren Krankheiten« wie Alzheimer, Diabetes, Herzleiden, Krebs. Und oft ein vorzeitiges Lebensende.

 

Je weiterreichend aber in der Geschichte der Nahrungsproduktion die Folgen der Verbrauchertäuschung wurden und je perfekter die Methoden, desto geringer wurde die Gefahr, dafür zur Rechenschaft gezogen oder gar bestraft zu werden. So wies etwa die britische Historikerin Bee Wilson („Swindled“) detailliert nach, dass die Lebensmittelfälschung im Industriezeitalter zunehmend toleriert wurde und die Staaten nur noch in geringem Maße bereit seien, intervenierend einzugreifen.

 

Wo frühere Regierungen von der Antike bis in die frühe Neuzeit energisch vorgegangen waren, dominiert Wilson zufolge jetzt »der tiefe Widerwillen der Regierungen, sich in die Märkte für Lebensmittel und Getränke einzumischen«. Daher seien nun »diese Märkte unehrlich und gefährlich« geworden.

 

Je größer und folgenreicher der Schwindel, die Verfälschungen der Lebensmittel und natürlich auch die gesundheitlichen Folgen wurden, umso mehr schwand die Neigung der Politik, hier überhaupt noch einzugreifen: So haben, führt die Historikerin aus, »viele Regierungen in den letzten zweihundert Jahren den Betrügern erlaubt, mit ungeheuren Verbrechen durchzukommen«.

 

Gefördert wurde die Entwicklung von internationalen Institutionen wie dem Codex Alimentarius, der Weltregierung in Sachen Lebensmittel, aber auch der Justiz, etwa dem Europäischen Gerichtshof (EuGH), der allzu traditionalistische Beamte zurechtwies, die an althergebrachten Vorstellungen von Täuschungsverboten festhalten wollten.

 

So etwa in einem klassischen Urteil, in dem es um Sauce Béarnaise und Sauce Hollandaise ging, jene traditionellen Elemente der besseren Küche, die nach überlieferten Regeln mit Butter und Eigelb sachte im Wasserbad angerührt werden, um dann Rinderfilets, Fisch oder Spargel zu begleiten. Ein Päckchensaucenhersteller hatte statt der guten Butter simples Pflanzenfett genommen und statt teurer Eier den Farbstoff E160f.

 

Im Mittelalter wäre das undenkbar gewesen.

 

Deutsche Behörden hatten noch interveniert und den traditionalistischen Standpunkt eingenommen, dass das, was Sauce Béarnaise oder Hollandaise heißt, auch das sein sollte, was Generationen von Köchen und Restaurantbesuchern darunter verstehen.

 

Die pingeligen Beamten mussten sich vom obersten europäischen Gericht jedoch eines Besseren belehren lassen. Im mittlerweile klassischen und viel zitierten Urteil vom 26. Oktober 1995 entschied die Fünfte Kammer des Gerichts in Luxemburg, dass die Pflanzenfett-Farbstoff-Mixtur ruhig unter den klangvollen klassischen Saucenbezeichnungen verkauft werden darf, auch wenn etwas völlig anderes drin ist, als die Kunden erwarten.

 

Die könnten ja schließlich das Kleingedruckte lesen, meint das Gericht: »Zwar werden die Verbraucher möglicherweise in Einzelfällen irregeführt, jedoch ist diese Gefahr gering.« Es sei, so das Urteil, »nämlich davon auszugehen, dass Verbraucher, die sich in ihrer Kaufentscheidung nach der Zusammensetzung der Erzeugnisse richten, zunächst das Zutatenverzeichnis lesen«.