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22.10.2021

DR. WATSON News

E-Nummern (2): Wie komm‘ ich da raus?

Meine Neigungen, meine Vorlieben, mein Risiko: Top-Forscher über Zusatzstoffe

Vor Corona geschützt - aber was ist mit der Chemie da drin?
Foto: Pixabay / Anna Kovtun

Chemie im Essen: Die unterschätzte Gesundheitsgefahr. Behörden haben die nötigen Erhebungen verschleppt. Eine große Untersuchung zeigt jetzt die besonders gefährdeten Gruppen. Die DR. WATSON Analyse Teil 2: Welcher Zusatzstoff-Typ bin ich? Und wie kann ich mich schützen?



Zerbröselte Zähne, Alzheimer, Übergewicht – und das durch völlig legale Chemikalien im Essen?

 

Klingt krass. Aber genau das sind die Risiken und Nebenwirkungen, die eigentlich auf den Beipackzetteln stehen müssten, wenn es die im Supermarkt gäbe. Bei Eis und Keksen, Milchdrinks, bei Wurst, bei Cornflakes und dem Fertigmüsli aus dem Pappkarton, mit den Extra-Vitaminen.

 

Die darin enthaltenen Chemikalien können tatsächlich zu Zahnschäden führen, die Hirnfunktionen stören, zu Alzheimer beitragen und dem Zappelphilipp-Syndrom ADHS, sie können zu den großen Zivilisationsleiden beitragen, bis hin zur Zuckerkrankheit Diabetes, Herzleiden, Schlaganfall, Krebs. Sogar zu Falten und Haarausfall, schlechter Laune, Depressionen oder Aggressionen. Womöglich sogar vorzeitigem Ableben. 

 

Jetzt haben sogar Wissenschaftler Alarm geschlagen, fordern strengere Überwachung.

 

Dabei gelten Lebensmittel-Zusatzstoffe bisher als völlig harmlos.  Doch es kommt natürlich auf die Dosis an. Und die ist tatsächlich steil angestiegen: Durch Cola und Fanta, schon durch die beliebte Kindermilch, die Säuglingsnahrung von Milupa, Hipp, Aptamil, durch Fastfood und Fertiggerichte, das Mittagessen in der Kita von Kochkonzernen wie Apetito. Und so sind die Stoffe mit den E-Nummern mittlerweile viel weiter verbreitet als gedacht.

 

Die Top-Additive werden von über 90 Prozent der Menschen geschluckt. Das hat jetzt eine große Untersuchung renommierter Forschungsinstitutionen ergeben (siehe DR. WATSON News vom 15. Oktober 2021). 

 

Die Studie hat auch untersucht, wer besonders betroffen ist, je nach Ernährungsmuster, den unterschiedlichen individuellen Vorlieben und Neigungen.

 

Und  sie liefert somit die Kriterien für den großen Persönlichkeitstest: Welcher E-Nummern-Typ bin ich? Wie gefährdet bin ich? Und vor allem: Wie komme ich da raus?

 

Viele Leute glauben ja noch, der Staat habe die Aufgabe, sie vor Lebensmittelrisiken zu schützen. Sie vertrauen darauf, dass er das auch tut. Und fühlen sich sicher.

 

Früher, vor langer, langer Zeit, war das tatsächlich auch so. Im Mittelalter beispielsweise war es die vornehmste und wichtigste Aufgabe der Obrigkeit, die Menschen vor Gefahren durch schlechte Nahrung zu bewahren, Vergiftungen und Verfälschungen zu verhindern und entsprechende Vergehen energisch zu verfolgen.

 

Doch das hat sich geändert.

 

Natürlich ist Verbrauchertäuschung nach wie vor streng verboten. Doch die Stoffe, die dazu eingesetzt werden, sind keineswegs geächtet, sondern ausdrücklich erlaubt. Die Zusatzstoffe zum Beispiel, die zur Geschmacksfälschung dienen, oder auch zur optischen Aufhübschung, damit sie besser aussehen, als sie sind.

 

Mehr noch: Die Europäische Union (EU). hat solche Stoffe sogar förmlich geadelt. Sie tragen jetzt einen offiziellen Ehrentitel, gelten im amtlichen EU-Neusprech als „Stoffe zur Verbesserung von Lebensmitteln“ („Food Improvement Agents“). Kein Witz: Sogar das einschlägige Gesetzespaket firmiert unter diesem Titel, gewissermaßen als Lebensmittel-Verbesserungspaket („Food Improvement Agents Package“).

 

Vor lauter Begeisterung über die chemischen Zusätze in der Nahrung hat die EU leider vergessen, was sie vor langer Zeit versprochen hatte: den Verzehr genau zu überwachen.

 

Denn selbst die schönsten „Verbesserungs“-Stoffe sind ja nur bis zu einer gewissen Grenze unproblematisch. Dann beginnen die Probleme. 

 

Zu sehen sind sie natürlich nur, wenn man mal hinschaut. So wie Forscher jetzt bei der großen Untersuchung mit genau 106.489 Testpersonen, die diesen Monat einem Fachjournal des renommierten deutschen Wissenschaftsverlages Springer Nature erschienen ist.

 

Wie viel Red Bull kann ich trinken ohne umzufallen? 

 

Die Studie angesehener Institutionen wie etwa der Pariser Universität Sorbonne bemängelt, dass bisher die reale Belastung der Bevölkerung nicht ermittelt wurde, etwa kaum Untersuchungen vorliegen zu den Wirkungen von Chemikalien-Cocktails, wie sie in vielen Produkten aus den Supermärkten anzutreffen sind. Ganz zu schweigen von der Gesamtbelastung der Bevölkerung. Und was die Behörden natürlich erst recht nicht wissen: Wann individuell die Schwelle zum Ungesunden überschritten wird. Durch meinen persönlichen Konsum.

 

Wie viele Dosen Red Bull kann ich trinken, ohne umzufallen?

 

Wie viel Pfanni-Püree kann ich meinen Kindern geben, ohne dass ihre Darmwand durchlöchert wird?

 

Die Behörden haben darauf keine Antwort: Sie wissen nicht einmal, wie viel die Konzerne an Chemie einsetzen (Beamten-O-Ton: "Ich weiß ja nicht, was Nestlé reintut."). Und sie können deshalb nur raten, wie viel die Bevölkerung davon schluckt: Die Rezepturen gelten schließlich als Betriebsgeheimnis.

 

Die neue Studie hat jetzt immerhin Risikoprofile erstellt für verschiedene Konsumentengruppen mit unterschiedlichen Vorlieben.

 

Behörden tappen im Dunkeln

 

Dabei waren die Wissenschaftler auch hier auf Schätzungen angewiesen. Amtliche Verzehrsdaten gibt es nicht, Statistiken über den Konsum von Zusatzstoffen in den einzelnen Mitgliedsländern.

 

Obwohl das eine EU-Vorschrift schon 1995 vorgesehen hatte, und einzelne Stichproben ein paar Jahre später zeigten, dass beispielsweise Kinder bei manchen Stoffen (wie den Sulfiten in Pfanni-Püree und anderswo)  bis zum 12fachen über den tolerablen Mengen lagen (siehe Hans-Ulrich Grimm: Chemie im Essen).

 

Sogar der Europäische Rechnungshof hat die selbstverschuldete Unkenntnis der EU-Behörden und vor allem die Untätigkeit der Mitgliedsstaaten heftig kritisiert.

 

Die Arbeitsverweigerung der Regierungen, ihrer Behörden und Spitzenbeamten hat natürlich Gründe: Dahinter steckt, zum Beispiel, ein tiefes inneres Verständnis für die Belange und Interessen der Industrie, die nicht verraten möchte, was drin ist in ihren Produkten.

 

"Das ist etwas, worauf der Hersteller ein bestimmtes Anrecht hat, wenn er solche Produkte entwickelt hat, das nicht offenzulegen", sagte zum Beispiel der oberste staatliche Ernährungsforscher Deutschlands, Chef einer großen Behörde, direkt der deutschen Bundesregierung unterstellt – und zugleich hoher Funktionär der einflussreichsten Lobbyvereinigung der globalen Food-Industrie (siehe Hans-Ulrich Grimm: Vom Verzehr wird abgeraten).

 

Mittlerweile liegt das Thema bei der Europäischen Lebensmittelsicherheitsbehörde Efsa auf der langen Bank. Sie hat bisher ebenfalls darauf verzichtet, exakte Daten zum Zusatzstoffkonsum zu erheben und sich auch ihrerseits aufs Schätzen verlegt. Wobei die Schätzungen der Efsa eher noch über denen lagen der französischen Forscherelite in ihrer neuen Analyse.

 

Das könnte möglicherweise am ausgeprägteren Gesundheitsbewusstsein der über hunderttausend Versuchspersonen in Frankreich liegen, wie die Autoren vermuteten, oder auch an deren höheren Bewusstsein für Genuss und Geschmack, einer gewissermaßen genetisch geprägten Abwehr gegen Chemie im Essen, denn immerhin zählt ihr Land zu den kulinarischen Leitnationen auf unserem Globus – jedenfalls bisher.

 

Dass da in Gallien allerdings einiges im Wandel ist, zeigte sich auch schon in anderen, sogar staatlichen Untersuchungen dort zum Thema Zusatzstoffe. Und auch jetzt wieder, vor allem bei den verschiedenen Konsumtypen, den “Clustern“ mit jeweils ähnlichen Vorlieben und Neigungen, die auch Orientierung bieten können bei der Frage nach den eigenen Risiken, je nach den Verzehrsgewohnheiten.

 

Welcher Zusatzstoff-Typ bin ich?

 

Denn der persönliche Anteil an Additiven ist ja abhängig von den täglich einverleibten Nahrungsmitteln.

 

Und da sehen die Autoren sechs verschiedene Verzehrstypen mit jeweils abgrenzbaren Ernährungsmustern („Clustern“):

 

  1.  Die Knabberfreunde. Sie verputzten am meisten (industriell produzierte) Kuchen, auch süße oder salzige KekseVorzugsweise geschluckte E-Stoffe daher: Lecithin (E322), Mono- und Diglyceride von Speisefettsäuren (E471), Natriumcarbonat (E500), Diphosphat (E450), Ammoniumcarbonat, (E503), Glycerin (E422), und Sorbit (E420). Anteil an der Testpopulation: 9,8 Prozent.
  2. Die Tütensuppenfans. Sie essen am liebsten Fertigsuppen, lösen gern Brühwürfel auf und konsumieren damit, wenig überraschend, am meisten Mononatriumglutamat (E621), modifizierte Stärke, Ascorbylpalmitat (E304) und Butylhydroxyanisol (BHA, E320). Sie waren die Ältesten, aber auch körperlich Aktivsten und zumeist Nichtraucher. Anteil: 14,7 Prozent der Stichprobe
  3. Die Kellogg’s-Jünger. Sie essen das, was in der TV-Werbung als gesund angepriesen wird: gesüßte Frühstückszerealien, Müsliriegel, Milchdesserts, aber auch industrielles Backwerk. Typische Zusatzstoffe: Carrageen (E407), Milchsäure (E270), Calciumpropionat (E282), Polyphosphate (E452), Bixin (E160b), Hydroxypropyl-Distärkephosphat (E1442) . Anteil: 8,4 Prozent.
  4. Die Wurstesser. Zumeist Männer mit einem eher mäßigen Bildungsniveau. Sie bevorzugten „verarbeitetes Fleisch“, also Würste aller Art, auch industrielle Soßen und Brot. Typische Zusatzstoffe: Natriumnitrit (E250), Natriumisoascorbat (E316), Triphosphate (E451) und Cochenille (E120). An der Spitze lagen sie bei Zitronensäure (E330), Xanthan (E415), Kaliumsorbat (E202), Guarkernmehl (E412), Kaliummetabisulfit (E224) und Zuckerkulör (E150a). Das waren 12,3 Prozent der Testpersonen.
  5. Die Soft-Trinker. Das waren die eher Jüngeren und Dickeren, Rauchenden und Bewegungs- sowie Bionahrungsvermeidenden. Typische Zusatzstoffe: Sie schluckten insbesondere die vier Hauptsüßstoffe Acesulfam K (E950), Aspartam (E951), Sucralose (E955), Steviolglycoside (E960), außerdem Zusatzstoffe wie Pektin (E440), Carotin (160a), Natriumcitrate (E331), Natriumascorbat (E301), Curcumin (E100), Kaliumnitrat (E252), den Cola-Zusatzstoff Phosphorsäure (E338,) außerdem Xanthophylle (161b), Natriumbenzoat (E211), Ester von Mono- und Diglyceriden (E472a - E472f) und Kaliumbenzoat (E212). Die Cola-Fanta-Redbull-Fraktion kam auf 2,6 Prozent.
  6. Die E-Verweigerer. Oder genauer: Verweigererinnen, der Frauenanteil lag hier bei 74,3 Prozent. Sie essen am liebsten echtes Essen, gern Bio, wenig „ultra-verarbeitete“ Nahrung, mehr Alkohol (was in Frankreich üblicherweise bedeutet: Wein). Sie waren „Vielkonsumenten“ von Vollkornprodukten, Hülsenfrüchte, Frühstückszerealien mit wenig oder ohne Zuckerzusatz, Gemüsesäften, ölhaltigen Früchten, Pflanzenölen und Käse. Zusatzstoffe: Kaum. Ihr Anteil an der Stichprobe: 52,1 Prozent. Woraus sich schließen lässt: Auch viele dieser Verweigerer*innen nehmen noch Top-Zusatzstoffe wie Zitronensäure oder Modifizierte Stärke zu sich – denn diese werden ja von über 90 Prozent verzehrt, weshalb wohl auch E-Nummern-Verächter*innen zwischendurch mal Softdrinks oder ähnliches schlucken.

 

Gleichwohl ist ein Leben ohne E-Nummern möglich – und für viele sogar sinnvoll, ja erstrebenswert.

 

Raus aus der E-Nummern-Falle!

 

Wie aber rauskommen aus der E-Nummern-Falle? 

 

Für manche ist jenes innovative, wissenschaftlich begründete NOVA-Schema eine Hilfe, das die Lebensmittel nach dem Grad ihrer Verarbeitung einteilt. Je höher die Stufe, desto mehr Zusatzstoffe; am massivsten werden sie eingesetzt bei den „ultra-verarbeiteten“ Nahrungsmitteln von Konzernen wie McDonald’s, Nestlé, Coca-Cola, Pepsi, Red Bull, Danone. Wer diese meidet, ist schon mal raus aus den meisten E-Nummern.

 

Leider gibt es (noch) keine amtlich vorgeschriebene Deklarierung der Produkte nach den NOVA-Kriterien. Aber: Die private Organisation Open Food Facts ordnet die jeweiligen Nahrungsprodukte aus Supermärkten und Tankstellen den NOVA-Stufen zu (wenn auch nicht immer ganz korrekt, da kann die Schwarmintelligenz auch mal danebenfliegen).

 

Grundsätzlich gilt natürlich: Je weniger die Produkte industriell verarbeitet sind, desto weniger Zusatzstoffe enthalten sie.

 

Und ja: Es ist sogar möglich, ganz ohne diese chemischen Additive auszukommen. Zum Beispiel, wenn man sich ans echte Essen hält, die Lebensmittel aus der Natur genießt, das also, woran sich der Mensch im Verlauf der Evolution angepasst hat.

 

Etwa in den regional unterschiedlichen Varianten der Traditionellen Ernährung, wie der klassischen Küchenkultur des Mittelmeerraums. Oder der Überlieferungen in anderen Weltregionen wie China, Indien, Brasilien, auch Skandinavien. Da gibt es klassischerweise ausschließlich die echten Früchte der Natur, und E-Nummern eher weniger.

 

Ähnlich bei einer Ernährungsweise, die bisher in der Öffentlichkeit kaum bekannt ist. Sie legt vor allem auf den Geschmack Wert, die besten Qualitäten bei Rohstoffen und Zutaten, auch auf mitfühlenden Umgang mit den Tieren, ein pflegliches Verhältnis zur Umwelt: Die sogenannte Gourmet-Ernährung.

 

Ein Brite hat den Begriff dafür geprägt, und er ist auch gleich dem Verdacht entgegengetreten, es handle sich um elitäres Gebaren: Gerade in den eher ländlichen und einfach strukturierten Regionen dieser Welt sei die Geschmacks-Kompetenz besonders ausgeprägt, etwa in den Garküchen Asiens, oder im peruanischen Hochland, wo die Menschen hundert verschiedene Kartoffelarten unterscheiden können. Und natürlichin der ländlichen Bevölkerung Italiens und Frankreichs: Klassischerweise ausnahmslos Gourmets, Kenner des Guten also.

 

Auch bei solchen traditionellen und geschmacksbetonten kulinarischen Zugängen wird natürlich der E-Stoff-Konsum minimiert – und reduziert auf einige wenige Chemikalien, die es tatsächlich schon seit tausenden von Jahren gibt, wie etwa die Sulfite im Wein.

 

Aber selbst da gibt es schon radikale Naturalisten, Winzer also, die selbst diese E-Nummern eliminieren (siehe Hans-Ulrich Grimm: Wein ist gesund).

 

Zero Zusatzstoffe – null Nebenwirkungen.

 

Ist das die Zukunft der Ernährung? Schön wäre es schon, besser für Tiere und Umwelt, gesünder auch - und genussvoller.