Bei der Debatte um Übergewicht und damit einhergehende Erkrankungen steht bislang die Ernährung im Vordergrund, mithin die individuelle Art der Verpflegung. Das Nahrungsangebot als Ursache für sogenannte Zivilisationskrankheiten wurde bislang vernachlässigt. Dabei wird die persönliche Auswahl durch das Angebot eingeschränkt, ja oft sogar determiniert. So werden schon kleine Kinder mit Säuglingsnahrung und Babygläschen an industriell verarbeitete Nahrung herangeführt, sie haben gar keine andere Wahl. Auch im Erwachsenenalter ist industrielle Nahrung die vorherrschende, für eine wachsende Zahl von Menschen rund um den Globus. Experten sehen dies mit Sorge, denn im gleichen Maße verbreiten sich die einschlägigen Krankheiten. Internationale Experten, auch von der Weltgesundheitsorganisation (WHO), fordern deshalb eine Veränderung des herrschenden Ernährungssystems.
»Die heutigen Ernährungssysteme sind gestört«, schrieb die Expertengruppe um WHO-Direktor Francesco Branca im British Medical Journal (BMJ). Sie »liefern keine nahrhaften, sicheren, erschwinglichen und nachhaltigen Lebensmittel«. Im Gegenteil: Sie »untergraben« sogar die Bemühungen um eine gesunde Ernährung, »insbesondere für gefährdete und marginalisierte Bevölkerungsgruppen«.
Im angloamerikanischen Sprachraum wird unterschieden zwischen »food« (Nahrung) und »nutrition« (Ernährung). Im deutschsprachigen Raum hingegen liegt der Fokus vorwiegend auf der »Ernährung«, also auf der Seite des Individuums. Selbst die zuständige Industriebranche, im Englischen als »food industry« bezeichnet (»Nahrungsindustrie«), firmiert hierzulande als »Ernährungswirtschaft«.
Das hat zur Folge, dass Gesundheitsrisiken, die mit bestimmten Inhaltsstoffen der Nahrung einhergehen, als Folge der »Ernährung«, mithin der Nahrungsauswahl, betrachtet werden. Die Verantwortung hierfür oliegt dem Individuum, den Nahrungsherstellern und -verkäufern kommt in diesem Verständnis keine Schuld zu.
Das muss sich ändern, forderte schon die frühere Chefin der Weltgesundheitsorganisation (WHO), Margaret Chan. Zum Beispiel, wenn es um das Thema Übergewicht geht. »Nicht ein einziges Land hat es geschafft, seine Adipositasepidemie in allen Altersgruppen zu stoppen«, klagte sie – und sah die Ursache nicht im Persönlichen, sondern bei der Politik: »Dies ist kein Versagen der individuellen Willenskraft. Dies ist ein Misserfolg des politischen Willens.«
Wer sich um die »öffentliche Gesundheit« sorge, führt Margaret Chan aus, müsse auch die großen Nahrungskonzerne ins Visier nehmen, die Softdrink-Giganten und natürlich ihre »Frontgruppen«, ihre »Lobbys«, die »industriefinanzierte Forschung, die Beweise manipuliert und die Öffentlichkeit in die Irre führt«.
So wird ihr zufolge ein »gewaltiger Widerstand« aufgebaut gegen Maßnahmen für die Gesundheit der Menschen auf diesem Planeten. Und Geld wird zur neuen Gewalt im Staat: »Die Marktmacht verwandelt sich schnell in politische Macht.« Leider aber würden »nur wenige Regierungen« den »Schwerpunkt auf die Gesundheit gegenüber dem Großkapital« setzen.
Die Politik könnte im Sinne der Konsumenten regulierend eingreifen, doch sie weigert sich, kooperiert weiter mit den Konzernen und schiebt die Verantwortung für ihre Gesundheit den Verbrauchern selbst zu.
Nach angloamerikanischem Verständnis haftet der Anbieter auch für die Folgen: Wie bei Schäden durchs Rauchen die Tabakindustrie ins Visier gerät und mit Schadensersatz in Millionenhöhe bestraft wird, gilt auch die Nahrungsindustrie als schadensersatzpflichtig, wenn Menschen durch fortgesetzten Verzehr der angebotenen Waren zu Schaden kommen.
Natürlich ist die Beweisführung schwierig, und die Kausalität im Einzelfall schwer nachzuweisen.
Doch der Befund ist klar. Und die freie Wahl ist für viele zunehmend eingeschränkt, nicht nur in de sogenannten "Lebensmittelwüsten" (Food Deserts)
Das Nahrungsangebot auf der Welt hat sich gravierend verändert, ein immer größerer Anteil der Nahrung ist industriell verändert. Zudem werden die meisten Nahrungsmittel über Supermärkte verkauft; ein immer größerer Anteil ist daher deren Gesetzen unterworfen, was Haltbarkeit und Transportfähigkeit anbelangt. Die Qualität der Nahrung wird damit grundlegend verändert, die Frische wird eingeschränkt, die Auswahl reduziert sich auf haltbare Ware, chemische Zusatzstoffe sorgen für längeres Leben im Regal (Shelf Life).
Damit wird die individuelle Ernährung auf eine bestimmte Auswahl festgelegt; weithin dominiert die sogenannte »westliche Ernährung« (Western Diet), die als Ursache für zahlreiche Zivilisationskrankheiten gilt, wie etwa Übergewicht, Herz-Kreislauf-Probleme, Schlaganfall, die Zuckerkrankheit Diabetes.
Dieser »westliche Lebensstil« ist mithin keine Frage privater Neigungen, sondern in erster Linie eine Frage des veränderten Nahrungsangebotes.
Das wichtigste Maß bei der gesundheitlichen Bewertung der Nahrungsqualität sollte deshalb heute der Grad der industriellen Verarbeitung sein. So sieht das jedenfalls eine neue Forschungsrichtung, die derzeit weltweit an Einfluss gewinnt. Sie ist zu der Erkenntnis gelangt: Je massiver die industriellen Manipulationen sind, desto größer ist das Gesundheitsrisiko.
Pionierarbeit bei diesem wissenschaftlichen Paradigmenwechsel leistete eine Gruppe brasilianischer Ernährungswissenschaftler um Professor Carlos Monteiro an der Universität von São Paulo: sie hat die NOVA-Klassifikation für Lebensmittel entwickelt, ein differenziertes Schema, mit dem die unterschiedlichen Typen von Nahrung je nach Gefährdungspotenzial eingeordnet werden können.
Es ist das erste adäquate Modell zur Beurteilung der modernen Lebensmittelrisiken im 21. Jahrhundert und könnte die Basis bilden für eine neue Lebensmittelpolitik, die auf die realen Gefährdungen abzielt . durch das herrschende Nahrungsangebot.
In vielen Ländern dominiert dabei nach den vorliegenden Daten die ultra-verarbeitete Nahrung: Fastfood, Fertignahrung Softdrinks, industrielle Babygläschen. Sie seien die Hauptverantwortlichen für die weltweite Pandemie des Übergewichts und der damit einhergehenden milliardenteuren „nicht übertragbaren Krankheiten“ wie Herzleiden, Krebs, Diabetes.
Die Experten der Weltgesundheitsorganisation (WHO) forderten deshalb, das Ernährungssystem zu »transformieren«. Denn das vorherrschende Angebot und die damit einhergehende schlechte Ernährung sei »eng verbunden« mit den milliardenteuren nicht übertragbaren Krankheiten, betonen die WHO-Spezialisten in ihrem Beitrag für das British Medical Journal (Titel: Transforming the Food System to Fight Non-communicable Diseases).