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Alkohol

Die Medien warnen gern vor den Gefahren des Alkohols, manche fordern sogar eine neue Prohibition. ZeroAlkohol: Für die öffentliche und private Gesundheit sowie die Sozialsysteme wäre das eine Tragödie. Zwar ist Alkohol im Übermaß tatsächlich eine Bedrohung – doch gar kein Alkohol auch. Tatsächlich steigen die gesundheitlichen Risiken mit zunehmenden Verzehrsmengen. Doch wenn sie gegen Null gehen, ist es genauso. Die Medizinforschung hat dafür den Begriff der J-Kurve geprägt, und warnt deshalb vor Alkoholmissbrauch ebenso wie vor Abstinenz. Eine Sonderrolle spielt dabei noch der Wein: Er galt jahrtausendelang sogar als Medizin, diente nicht nur der Vorbeugung, sondern auch der Behandlung von Krankheiten (siehe Hans-Ulrich Grimm: Wein ist gesund).

 

Alkohol, auch Ethylalkohol genannt – Fachbegriff: Äthanol oder gemäß internationaler Schreibweise Ethanol, chemische Summenformel: C2H6O. Die Experten betrachten ihn als schlimmes Gift, völlig zu Recht. Sogar der Körper sieht das so; er zieht seine Konsequenzen und schaltet, wo immer er ihn trifft, auf Attacke und organisiert seine Abwehrtruppen. Dafür hat er ja seine Alarmpläne und Befehlsketten, die Kampf- und Reparaturprogramme hochfahren. Und er zielt damit zum Beispiel ganz direkt auf Krankheitserreger, was eines seiner Erfolgsgeheimnisse war über Jahrtausende, als es noch keine Antibiotika und Desinfektionsmittel gab.

 

Der Alkohol hilft dabei, denn ein bisschen Gift regt den Körper an, seine Abwehr zu trainieren, sie auf Stand-by zu halten – jederzeit zum Abwehrschlag bereit. Das Fachwort dafür lautet Hormesis, ein griechischer Begriff, der so viel wie »Anregung, Anstoß« bedeutet.

 

Weil er ein Gift ist, aktiviert er überall die Sensoren der Abwehr, schon im Mund, auf der Zunge, wo er auf Rezeptoren trifft, die sozusagen als Wachposten installiert wurden.

 

So geht das weiter auf der Reise durch den Körper, durch die Speiseröhre in den Magen, die Leber, den Darm, ins Blut. Dort beteiligt sich der Alkohol zum Beispiel an Schutz- und Säuberungsaktionen und verbessert die Werte beim Cholesterin; er hilft mit, die Bildung von Klümpchen und Plättchen zu verringern, erweitert die Adern, verhindert Verstopfung, senkt den Druck, schützt das Herz, verbessert den Kreislauf und beugt so Herzinfarkt und Schlaganfall vor.

 

Abstinenz, das zeigen die wissenschaftlichen Daten, ist ein bisher übersehenes Risiko, vor allem für das Herz. Wenn der Alkoholkonsum bei null liegt, geht es steil aufwärts bei den Krankheitsraten, sogar höhere Sterblichkeit droht, verglichen mit mäßigem Genuss.

 

Sogar die Tiere nutzen den Alkohol zu medizinischen Zwecken, etwa die Fruchtfliege Drosophila melanogaster, das kleine Modellwesen der Biologen und Mediziner. Sie wird ständig von lästigen Wespen bedroht und setzt sich gegen diese trickreich und unter Ausnutzung des Alkohols und seiner physiologischen Fähigkeiten zur Wehr. Die Fruchtfliege legt ihre Larven in gärende Früchte, nutzt damit die Potenziale des Alkohols, der ja eigentlich ein Gift ist, und verbessert so ihre Kampfposition gegenüber den Wespenattacken.

 

So dienen mithin »natürliche Alkoholspiegel« dem kleinen Körper der Drosophila gewissermaßen als »Schutzgift«, schreiben Biologen von der Emory University in Atlanta im US-Bundesstaat Georgia in ihrem Bericht über den »Alkoholkonsum als Selbstmedikation der Fruchtfliege« (Alcohol Consumption as Self-Medication against Blood-Borne Parasites in the Fruit Fly).

 

Durchaus denkbar sei, meinen die Forscher, »dass der Alkoholkonsum ähnliche Schutzwirkungen bei anderen Organismen haben« könnte und womöglich nicht nur Drosophila in der Lage sei, »die heilenden Eigenschaften von Alkohol zu nutzen«.

 

Und tatsächlich: Viele Lebewesen tun das. Die Vögel, sogar die Igel, die Eichhörnchen, Hunde und Elche. Auch Elefanten tun es. Und Affen.

 

Robert Dudley, Biologieprofessor an der University of California in Berkeley, hat die »Hypothese vom betrunkenen Affen« entwickelt (Drunken Monkey Hypothesis), mit der er die Vorliebe für Alkohol erklären will – und dessen Rolle in der Geschichte der Zivilisation.

 

Für Dudley ist der Genuss alkoholischer Getränke der Auslöser für einen evolutionären Sprung in der Gattungsentwicklung. Denn wer in der Lage ist, die vergorenen Früchte, das Wein-Geschenk der Natur sozusagen, in Maßen zu genießen, verschaffe sich einen evolutionären Vorsprung.

 

So seien die kleinen Alkohol-Früchtchen leicht verdaulich, lieferten also problemlos und ohne großen Aufwand wertvolle Kalorien. Wer das erkennt und nutzt, ist natürlich besser dran als die anderen: »Wenn man den Alkohol riechen und schneller zur Frucht kommen kann, hat man einen Vorteil«, sagt Dudley. »Du besiegst die Konkurrenz und bekommst mehr Kalorien.« Es lohne sich also, diese Nahrungsquelle zu nutzen – auch für Menschen.

 

Schließlich können die alkoholischen Getränke Krankheitserreger abtöten. Zudem, meint Dudley, erlebten diejenigen, die sich so gestärkt hatten, beim Essen einen »sanften Anflug von Vergnügen« im Gehirn – und hatten wahrscheinlich auch bei der Fortpflanzung mehr Erfolg.

 

Der Alkohol war mithin auch ein wichtiger Antrieb für die Entwicklung der menschlichen Zivilisation meint Professor Patrick Edward McGovern, Wissenschaftlicher Direktor am Museum der Universität von Pennsylvania in Philadelphia und zugleich Leiter einer Forschungseinrichtung mit der Bezeichnung»Laboratorium für Biomolekulare Archäologie für Küche, fermentierte Getränke und Gesundheit«.

 

Und »fermentierte Getränke«, insbesondere der Wein, waren in der Tat, meint McGovern, evolutionär von Vorteil, vor allem im Sozialen, bei der Entwicklung von Kommunikation und Interaktion, also der menschlichen Zusammenarbeit, ohne die eine höhere Form von Wirtschaftstätigkeit nicht denkbar ist: »Es gibt gute Beweise aus der ganzen Welt, dass alkoholische Getränke für die menschliche Kultur wichtig sind«, und zwar so wichtig, dass der Homo sapiens, der »kluge Mensch«, eigentlich eine andere Gattungsbezeichnung verdient hätte: Homo imbibens, der trinkende Mensch.

 

Der Alkohol setzt zum Beispiel im Gehirn sogenannte Endorphine frei, vor allem wenn er in geselligen Zusammenhängen genossen wird. Diese Endorphine – köpereigene Drogen, die sowohl bei Schmerzen als auch bei Glückszuständen ausgeschüttet werden – »erzeugen ein positives Gefühl in einem Menschen«, sagt ein weiterer Experte aus diesem Forschungsfeld, der Evolutionspsychologe Professor Robin Dunbar von der Universität Oxford. Sie machen auch mutiger, sie stärken nebenbei das Immunsystem und die Gesundheit und erleichtern mithin das Überleben unter widrigen äußeren Umständen.

 

Die Evolution von Freundschaft und Geselligkeit hat Robin Dunbar zufolge auch materielle und ökonomische Aspekte. Denn die Freunde, mit denen unsere Ahnen zusammengesessen, getrunken und gelacht haben, waren natürlich auch sonst eine Hilfe – bei der Nahrungsbeschaffung, bei der Abwehr von Angreifern, bei der Entwicklung von Techniken und der Planung von Aktivitäten. Klare »Vorteile« also, sagt Dunbar, »die direkt vom Alkoholkonsum abgeleitet werden können«.

 

Die positiven Wirkungen auf das Gehirn führten zu besseren geistigen Leistungen. Und die Effekte auf das soziale Miteinander ermöglichten die Entwicklung der passenden gesellschaftlichen Modelle des Zusammenlebens. Weil der Konsum alkoholischer Getränke die Menschen zudem risikobereiter macht, mutiger, weniger ängstlich, könnte das ein Antrieb für Innovation und Entwicklung gewesen sein.

Kurz: Der Alkohol ist das Schmiermittel der Zivilisation.

 

Die ganz großen Übergänge in der Menschheitsgeschichte zeigen den Archäologen zufolge einen Zusammenhang mit solchen Getränken: von den Anfängen der Landwirtschaft in jener Zeit, als die Menschen sesshaft wurden, bis zu den Ursprüngen der Schrift.

 

Bisher hatten die Forscher geglaubt, die Menschheit sei sesshaft geworden, um Nahrungsmittel zu produzieren, doch mittlerweile meinen die Archäologen eher, es sei ihnen damals um die alkoholischen Getränke gegangen – und um die damit verbundene Geselligkeit. Darauf deuten auch die Fundstätten hin, die frühen Zeugnisse für die Herstellung und den Genuss solcher Getränke, die in der Regel auch Kultstätten waren, mithin eingebunden in religiöse Rituale – und damit in die frühen Formen sozialer Kooperation.

 

Mehr dazu:

Hans-Ulrich Grimm: Wein ist gesund

 

 

 

 

 

 

 

Die J-Kurve: Zu viel Alkohol ist ungesund - gar keiner aber auch. Aus: Hans-Ulrich Grimm: Wein ist gesund