Aus Sägespänen wird Erdbeergeschmack: So sieht Fortschritt aus. Während In der Welt der traditionellen Ernährung Sägespäne keinen Platz fanden, hat sich das dank technologischer Fortschritte in der modernen Nahrungsindustrie massiv geändert. So dienen Sägespäne von speziellen Holzarten in der Welt der industriellen Nahrungsmittel als Ausgangsmaterial zur Geschmacksproduktion. Beispielsweise für ein Aroma vom Typ »Erdbeere«, aber auch vom Typ »Himbeere«, »Kakao«, »Schokolade« oder »Vanille«. Als Pionier auf diesem Felde gilt der Forscher Dr. Wilhelm Haarmann aus einem deutschen Ort mit dem passenden Namen Holzminden, der unter Nutzung umliegender Wälder den Grundstock legte für eine ganze Industrie, auch den heutigen Konzern Symrise dort am Ort, der zu den weltweit größten Herstellern von industriell hergestelltem Geschmack gehört.
Ihm gelang 1874 ein folgenschweres Kunststück: Er gewann aus dem Rindensaft örtlicher Fichten einen synthetischen Ersatz für Vanille, nannte es Vanillin, gründete auch gleich eine Fabrik und hob damit, so die Firmenchronik, »einen völlig neuen Industriezweig aus der Taufe«.
Er gründete 1875 in Holzminden Haarmann’s Vanillinfabrik, sie wurde nach dem Eintritt seines Partners Karl Ludwig Reimer 1876 in Haarmann & Reimer umbenannt und schloss sich 2003 mit dem ebenfalls in Holzminden ansässigen Aromahersteller Dragoco zum Konzern »Symrise« zusammen.
Die Gesetze wurden an die technologische Entwicklung angepasst. So darf Aroma aus Sägespänen als »natürliches Aroma« bezeichnet werden. Das ist völlig legal und verdankt sich internationalen Bestimmungen des Codex Alimentarius, der weltweit wichtigsten Instanz zur Nahrungsregulierung, gewissermaßen die Weltregierung in Sachen Lebensmittel.
Im Anhang 1 zum Codex Alimentarius Band XIV heißt es unter der Überschrift »Allgemeine Anforderungen an natürliche Aromastoffe«: »Natürliche Aromen oder natürliche Aromastoffe« seien Substanzen, die auf »physikalischem, mikrobiologischem oder enzymatischem« Wege aus Materialien »pflanzlichen oder tierischen Ursprungs« gewonnen werden.
Der Verwendung von Sägespänen fürs Erdbeeraroma steht damit nichts im Wege. Bäume und Meeresgetier sind schließlich unzweifelhaft Bestandteile der Natur.
Dass das Erdbeeraroma aus Sägespänen gewonnen wird, ist einer breiteren Öffentlichkeit bekannt seit dem ersten Erscheinen des Buches Die Suppe lügt.
Weil seither die Verbraucher das „natürliche“ Erdbeeraroma aus Sägespänen aber zunehmend kritisch sahen, hat der Gesetzgeber schließlich reagiert.
Die Europäische Union hat zunächst einmal die Chemikalien, die bei der industriellen Nahrungsproduktion Verwendung finden und oft so kritisiert werden, aufgewertet, ja geadelt. als „Stoffe zur Verbesserung von Lebensmitteln“ (im internationalen Fachjargon: Food Improvement Agents).
Zur Regelung des Umgangs mit diesen edlen Ingredienzen hat die Europäische Union ein ganzes Quartett aus Vorschriften erlassen, das „Food Improvement Agents Package“ (FIAP), bestehend aus vier Einzelverordnungen, darunter die Verordnung (EG) Nummer 1334/2008.
Diese schreibt das vor, was Verbraucher auch erwarten: dass ein „natürliches Aroma“ selbstverständlich aus „Lebensmitteln“ gewonnen werden muss.
In einem Akt salomonischer Weisheit haben die EU-Gesetzgeber aber auch dafür gesorgt, dass die Konzerne weiterhin kostengünstig die Sägespäne für die Gewinnung von Erdbeergeschmack nutzen können.
Die Sägespäne wurden deshalb nicht verboten, sondern - zu Lebensmitteln ernannt. Ganz offiziell, in dieser Verordnung Nummer 1334/2008: Denn „Stoffe“, die „bisher für die Herstellung für die Herstellung von Aromen verwendet worden sind, gelten für die Zwecke dieser Verordnung als Lebensmittel“. Auch wenn bislang, wie die Verordnung freimütig einräumt, „beispielsweise Rosenholz und Erdbeerblätter nicht als solche verwendet wurden“.
Die Aromaindustrie hatte die Sache mit den Sägespänen immer dementiert.
Die Wochenzeitung Die Zeit hatte für ihre Rubrik „Stimmt’s“ sogar einmal nachgefragt, der Einfachheit halber in Holzminden, beim Hersteller Symrise. Also gewissermaßen gleich beim Erfinder des Verfahrens.
Die Firma aber dementierte: Da sei nichts dran an der Sache mit den Sägespänen. Der Qualitätsjournalist von der Zeit hat es geglaubt und das so aufgeschrieben. Auf 19 Zeilen berichtete er von seinem Rechercheprojekt Sägespäne: »Das mit dem Erdbeeraroma aus Sägespänen ist ein hartnäckiges, aber falsches Gerücht“.
Das Dementi hat er gern überliefert, aber leider keine sachdienlichen Hinweise zum Herstellungsverfahren. Dazu mochte die Dame von Symrise, wie das so üblich ist, überhaupt nichts sagen: »Woraus das Erdbeeraroma nun wirklich besteht, sagt uns der Hersteller nicht.«
Das Dementi ist ihnen sehr wichtig. Auch der Deutsche Verband der Aromenindustrie behauptet: »Fakt ist: Es gibt kein Herstellungsverfahren für Erdbeeraromen, bei dem Sägespäne eine Rolle spielen.«
Das ist aber nicht ganz wahr.
Dass Holz im Spiel ist, hatte dem Zeit-Reporter gegenüber sogar »Kirsten Hesse von dem Aromenhersteller Symrise in Holzminden« eingeräumt. In welcher Erscheinungsform das Holz, aus dem das Erdbeeraroma werden soll, in seinen Verwandlungsprozess eintritt, ob ganz als kompletter Baum, zersägt als Bretter, als Balken, das sagte sie nicht.
Nun gibt es dazu glücklicherweise eine sozusagen amtliche Auskunft. Es sind: Sägespäne.
Das klärende Wort kam von der deutschen Bundesregierung. Sie berichtet in einer Broschüre ganz begeistert von den tollen neuen Möglichkeiten der Geschmacksherstellung und kommt dabei auch auf die ominösen Sägespäne: »Aromastoffe verleihen vielen Lebensmitteln erst den richtigen Geschmack. Ein Beispiel hierfür ist der Fruchtjoghurt. Die Isolierung des Aromas aus echten Früchten wäre angesichts des wachsenden Bedarfes an diesen Produkten viel zu aufwendig. Lebensmitteltechnologen behelfen sich deshalb entweder mit chemischen Varianten oder mit Mikroben, die das natürliche Aroma als Biofabrik in ebenso guter Qualität wie die Natur herstellen. So wird Erdbeeraroma mithilfe von Pilzen hergestellt, die auf Sägespänen wachsen.«
Erdbeeraroma aus Sägespänen. Amtlich bestätigt. Durch die Bundesregierung, in einem Papier zum Thema »Weiße Biotechnologie«.