Der weltgrößte Nahrungskonzern Nestlé ist der wichtigste Lieferant für ultra-verarbeitete Nahrung und ein beliebtes Zielobjekt von Kritikern. Im Zentrum standen lange die Verkaufspraktiken für Säuglingsnahrung in armen Ländern, aber auch die Verkaufsstrategien für Wasser in Flaschen oder die Äußerungen der Firmenspitze zur Gentechnik. Der Konzern selbst sieht sich ganz anders, will sich als Gesundheitsunternehmen positionieren und wirbt daher mit Millionenaufwand für vitamin- oder bakterienverstärkte Produkte. Die Kunden glauben an die Werbeversprechen, kaufen und sorgen beim Konzern für üppige Profite.
Im „Krieg ums Essen“, von dem schon die New York Times berichtete, kämpft der Konzern gegen die traditionelle Nahrung und versucht, weltweit immer mehr Terrain zu erobern von den traditionellen Teilen des Ernährungssystems, den kleinen Bauern, Bäckern, Metzgern, Köchen.
Auf seinem Feldzug in den Entwicklungs- und Schwellenländern beschäftigt der Konzern ganze „Direktvertriebsarmeen“ (New York Times), um die Bewohner etwa der Armenviertel der Städte zum Konsum der ultra-verarbeiteten und damit ungesunden Konzernprodukte zu drängen.
Mit einem in Brasilien gestarteten Von-Tür-zu-Tür-Programm belieferte der Konzern 700.000 einkommensschwache Verbraucher jeden Monat.
Zeitweilig hatte Nestlé sogar in Schiff mitfinanziert, das selbst in entlegene Amazonasgemeinden Milchpulver, Joghurt, Schokoladenpudding, Kekse und Süßigkeiten lieferte.
Mit der so forcierten Nutrition Transition, dem Übergang von der traditionellen Nahrung zur globalen Einheitskost aus Konzernproduktion, verbreitet der Konzern auch die damit verbunden Krankheiten, zuvörderst bei den Söldnerinnen der „Direktvertriebsarmee“, die für den Food-Multi aus der Schweiz ins Feld ziehen – und dabei als erste auf der Strecke bleiben.
Wie zum Beispiel der Mittfünfzigerin Joana D’arc de Vasconcelos Neves aus einem Elendsviertel in der Millionenstadt Fortaleza, über die die New York Times berichtet hatte.
Stolz zeigte sie den Reportern in ihrer Wohnung die Zertifikate der Ernährungskurse von Nestlé, die Plüschtiere von Nestlé und das Foto ihrer Kinder im Alter von zwei Jahren, die sie mit den Produkten der Firma fütterte: »Als er ein Baby war, aß mein Sohn nicht gerne – bis ich anfing, ihm Nestlé-Lebensmittel zu geben.«
Ihre Tochter wog mit 17 Jahren mehr als 114 Kilo, hat das polyzystische Ovarialsyndrom, eine hormonelle Störung, und Bluthochdruck – genau wie ihr Mann.
Frau de Vasconcelos selbst hat ebenfalls Bluthochdruck und Diabetes, wie auch ihre Mutter und zwei Schwestern. Ihr Vater starb vor drei Jahren, nachdem er seine Füße durch Wundbrand, eine Komplikation von Diabetes, verloren hatte. Die Zuckerkrankheit ist in ihrer Umgebung allgegenwärtig: »Es wäre schwer, hier eine Familie zu finden, die sie nicht hat.«
Zugleich verbreitet der Konzern gezielt sein Image von Sauberkeit und Gesundheit (Slogan: „Good Food, Good Life“). Als strategisches Element zum Imagetransfer dient dabei das Wassergeschäft. In Entwicklungs- und Schwellenländern wird »Nestlé Pure Life« verkauft, das soll in den oft schmutzigen Ländern das Symbol für Sauberkeit und Reinheit werden – und so das Image der übrigen Produkte des Food-Konzerns prägen.
Die Aussichten sind riesig: 2,2 Milliarden Menschen und damit jeder Dritte auf der Welt hat keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser. 80 Prozent der Krankheiten in Entwicklungsländern sind nach Unesco-Angaben auf verschmutztes Wasser zurückzuführen.
Kein Wunder, dass die Marke boomt: Weltweit ist Nestlé Waters Marktführer, mit 77 Marken in 130 Ländern und über 17 Prozent Anteil am globalen Wasserflaschenbusiness.
Kritiker wenden ein, Wasser dürfe nicht zur Ware werden, so etwa die Hilfsorganisation Brot für die Welt: Die Ressource sollte allen zur Verfügung stehen.
Der Verkauf von Wasser in Flaschen ist nicht nur ein Problem in Entwicklungsländern – in den Industrieländern entzündet sich ebenfalls Kritik. Denn ungezählte Lastwagen rollen über die Straßen und Autobahnen, nur um Wasser wie San Pellegrino, Vittel oder Perrier fernab der Quelle zu den Abnehmern zu bringen: Contrex wird in 40 Ländern verkauft, Vittel in 70, San Pellegrino in 100 und Perrier gar in 160 Ländern. Allein durch die Importe in die Schweiz verursache der Wasserkonzern 12.000 unnütze Lkw-Fahrten im Jahr.
Und die Expansion geht weiter: In Brasilien haben die »Quellenschlucker« (so die linke Schweizer Wochenzeitung) von Nestlé eine ganze Reihe von Brunnen aufgekauft – und für das »Einheitswasser« Pure Life die Mineralien herausgelöst.
Illegalerweise, wie Kritiker sagen: In Brasilien ist das Demineralisieren von Mineralwasser verboten. In den USA warfen sie den Nestlé-Abfüllern vor, den Grundwasserspiegel abzusenken, sodass die Quellen der Bauern versiegen.
Am Lake Michigan hat der Konzern für 75 Dollar das Recht erworben, Seewasser abzupumpen, saugt jährlich eine Milliarde Liter ab und verkauft es als »Ice Mountain Water«.
Nestlé fühlte sich zu Unrecht angegriffen: Das trübe Nass in Brasilien ist nach Konzernansicht ohnehin kein Mineralwasser. Und schließlich sei Wasser in Flaschen keine Ressource, sondern ein Produkt.
Am Ende des Filmes »We feed the World« kommt der damalige Konzernchef Peter Brabeck-Letmathe zu Wort: »Wasser ist ein Lebensmittel, und so wie jedes andere Lebensmittel auch sollte das einen Marktwert haben.«
Der Auftritt hat den Konzern nicht unbedingt sympathischer gemacht.
Die Kritik ging weiter, in Südafrika, auch am Firmenstandort im französischen Vittel, wo der Konzern jährlich eine Milliarde Liter Wasser abpumpt, der Grundwasserspiegel sinkt und die Anwohner befürchten, dass sie bald auf dem Trockenen sitzen.
Mittlerweile haben die PR-Profis des Weltkonzerns den Sound zeitgemäß neu intoniert, und verkündet: „Wir sind uneingeschränkt der Meinung, dass der Zugang zu Wasser ein Menschenrecht ist“.
Doch es gibt noch weitere Kritikfelder: Das Palmöl, zum Beispiel, für den Schokoriegel Kitkat „töte“ den Regenwald. Nestlé gelobte Besserung, wie auch bei Vorwürfen wegen Tierversuchen („...haben uns global dazu verpflichtet, bei Nestlé den Einsatz von Tierversuchen auf ein Minimum zu reduzieren“).
Seit langem trifft die Kritik auch das Ur-Geschäftsfeld des Konzerns, jenes, mit dem Gründervater Heinrich »Henri« Nestlé die Basis gelegt hatte für eine höchst ambivalente Erfolgsgeschichte.
Er war der Erste, der ein Kunstgetränk als Muttermilchersatz auf den Markt gebracht hatte, sein »Kindermehl«, im Herbst 1867.
Zuvor hatte der Geschäftsmann mit Zement gehandelt, mit Steinen, Dünger, Gas und auch Petroleumlampen. Dann also »Kindermehl«. Dafür experimentierte er mit allerlei Ingredienzien, nahm schließlich Milch, Mehl und Zucker, buk einen Zwieback, pulverisierte ihn und rührte ihn in eingekochte Milch. Dann wurde das Gemisch getrocknet, ein bisschen Kaliumbicarbonat (E501) hinzugegeben – und fertig war der Welterfolg.
Das Pulver passte in seine Zeit, ins 19. Jahrhundert. Es war, wenn man das so sehen will, ein Meilenstein für die Befreiung der Frau, eröffnete ihr ganz neue Möglichkeiten, auf Maloche zu gehen, was damals oft bedeutete: ins Bergwerk, in die Fabrik, 16 Stunden am Tag, sechs Tage die Woche.
Und auch für ihre Babys war Henri Nestlés »Kindermehl« ein Segen, findet die Firma noch heute: »Seine Säuglingsnahrung rettete vielen Babys, die nicht gestillt werden konnten und andere Ersatznahrung nicht vertrugen, das Leben.« Das stimmt wohl sogar und ist nicht nur Marketingprosa.
Aber: Es hängt stark vom Wasser ab, mit dem das Pulver aus der Packung anzurühren ist. In der Schweiz ist das kein Problem, in ganz Mitteleuropa nicht. Ganz anders aber in Entwicklungsländern.
»Nestlé tötet Babys«, lautete deshalb der Vorwurf einer berühmten Kampagne, die das Image des Pioniers bei industrieller Säuglingsnahrung über Jahrzehnte belastete.
Aktivisten in aller Welt, aber auch Organisationen wie das Weltkinderhilfswerk Unicef kritisieren vehement die Vermarktungspraktiken der Pulver-Konzerne – und beklagen die Todesfälle bei Kindern durch Fläschchenmilch.
Wenn dort das Wasser verseucht ist, kann die Fläschchenfütterung fürs Baby tödlich enden. Und in vielen Fällen, überall auf der Welt, über kurz oder lang sogar für die Mutter. Denn auch für sie wäre Stillen gesünder. Es schützt sie vor vielen Krankheiten, etwa Brustkrebs. Wenn sie statt der Brust das Fläschchen reicht, erhöht sich ihr Risiko.
Weltweit seien »20.000 jährliche Todesfälle wegen Brustkrebs« dadurch zu beklagen und sogar insgesamt »82.000 jährliche Todesfälle bei Kindern unter fünf Jahren«, wie der Epidemiologe Cesar G. Victora vom Zentrum für gesundheitliche Chancengleichheit an der Universität von Pelotas in Brasilien vorrechnet, in einem Artikel im britischen Medizinerblatt The Lancet.
Nestlé unternimmt viel, um den Nutzen seiner Produkte wissenschaftlich zu untermauern. Die Firma vergibt zahlreiche Forschungsaufträge, unterstützt als Sponsor Tagungen etwa von Ernährungsmedizinern, wenn es um Babynahrung geht. Der Konzern hilft auch dem Verband der Oecotrophologen (VDOe), in dem die Ernährungsberaterinnen organisiert sind, als »Korporatives Mitglied«.
An zahlreichen deutschen Universitäten gibt es sozusagen Nestlé-Filialen: Die Abnehmfirma Optifast, die Nestlé von dem Schweizer Pharmamulti Novartis übernommen hat, ist in viele Universitäten integriert, Professoren wie etwa der Hohenheimer Stephan Bischoff betreiben die Geschäfte, oft wirkt die Nesté-Niederlassung wie eine universitäre Einrichtung (Interessenkonflikte).
Auch bei den politischen Entscheidungsgremien macht der Konzern seinen Einfluss geltend. So etwa im Codex Alimentarius, einem Gremium der Vereinten Nationen, in dem die weltweiten Standards für die Lebensmittelgesetzgebung gesetzt werden. Der Konzern ist häufig bei den Sitzungen dabei, auch als Mitglied in der offziellen Schweizer Delegation, häufig auch in mehreren, auch in der deutschen, etwa wenn es um die umstrittene Kindermilch geht, die die zuständige deutsche Behörde, ebenfalls in der Delegation vertreten, eigentlich schon verbieten wollte.
In früheren Zeiten waren die Nestlé-Konzernchefs auch für ihre markigen Sprüche berühmt. Der unvergessene Peter Brabeck-Letmathe etwa verkündete: »An Gen-Produkten ist noch keiner gestorben, an Bio-Produkten schon.«
Sein Vorgänger Helmut Maucher beschimpfte sozial benachteiligte Randgruppen als »Wohlstandsmüll« und errang dafür das Prädikat »Unwort des Jahres«.