Prof. Dr. Dr. Rechkemmer: Ein Staatsdiener in doppelter Mission. Der Fall des langjährigen Behördenchefs und obersten Ernährungsforschers der deutschen Bundesregierung markiert den bisherigen Höhepunkt in Sachen Verflechtung zwischen staatlichen Machtfunktionen und kapitalistischen Konzern-Interessen – zum Nachteil der Verbraucher. Einerseits war der Top-Beamte an führender Stelle für den Staat tätig, als Präsident des Bundesforschungsinstituts für Ernährung und Lebensmittel in Karlsruhe (Max Rubner-Institut, kurz MRI). Zugleich war er Agent der weltweit einflussreichsten Lobbytruppe der Nahrungskonzerne, als hoher Funktionär des International Life Sciences Institute (Ilsi), gegründet von Coca-Cola, getragen von Firmen wie Danone, Südzucker, Mars, Nestlé, Unilever, McDonald’s.
Er ist damit ein extremes Beispiel für schwerwiegende Interessenskonflikte staatlicher Beamter, die neben ihrer steuerfinanzierten Staatsfunktion ausgerechnet für jene Wirtschaftskreise tätig sind, die sie eigentlich überwachen und kontrollieren sollten. Und alles nach eigenen Aussagen mit Billigung, ja Unterstützung seines Dienstherrn, der deutschen Bundesregierung.
Er selbst mochte da keinerlei Loyalitätsprobleme sehen. Für die Verbraucher allerdings hatte seine Doppelfunktion verheerende Folgen; was sie anbelangte, klaffte in seiner Tätigkeit gewissermaßen eine Repräsentationslücke.
Ein Diener zweier Herren in Sachen Nahrung: Rechkemmer war Herr über acht staatliche Institute in ganz Deutschland, für Fleischforschung, Fettforschung, Milchforschung, einen Multimillionen-Etat aus Steuergeldern. Zugleich leitete er Veranstaltungen als hoher Funktionär einer weltumspannenden Lobbyvereinigung, deren Einfluss auf die globale Nahrungspolitik nicht hoch genug eingeschätzt werden kann.
Rechkemmer hatte an der Universität Hohenheim bei Stuttgart studiert und promoviert, habilitierte sich an der Tierärztlichen Hochschule Hannover, wurde dort zum Professor ernannt, übernahm später Professuren an den Universitäten in Karlsruhe und München-Weihenstephan.
Von 2007 bis 2016 war er oberster Ernährungsforscher der deutschen Bundesregierung, Präsident ihrer wichtigsten Forschungseinrichtung auf diesem Felde, der Bundesforschungsanstalt für Ernährung in Karlsruhe, 2008 umbenannt in Max-Rubner-Institut (MRI).
Im Jahre 2011 wurde Rechkemmer zugleich Funktionsträger für die globalen Food-Multis, Mitglied des europäischen Vorstands (Board of Directors) der Lobbyorganisation International Life Sciences Institute (Ilsi). 2013 bekam der Spitzenbeamte der deutschen Bundesregierung sogar einen Sitz im weltweiten Aufsichtsgremium (Board of Trustees) der Konzernvereinigung, die vor allem die Interessen der Produzenten des Ungesunden vertritt, der sogenannten ultra-verarbeiteten Nahrung, Fastfood, Softdrinks, Süßigkeiten, Chips.
Nach eigenen Angaben wurde Rechkemmer (Besoldungsgruppe B6), für seine oft mehrere Tage andauernden Dienstleistungen im Auftrag der Konzerne nicht von ihnen entlohnt.
Rechkemmer verkörpert eine neue Form von Lobbyismus, eine neue Dimension der Interessenpolitik der Industriekonzerne, entwickelt und zur Entfaltung gebracht von dem weltumspannenden Ilsi-Netzwerk, den milliardenschweren Konzernen und ihren hilfswilligen Partnern in den staatlichen Stellen.
Dieses System operiert nicht mit geheimen Geldtransfers, den klassischen Koffern mit Bündeln von Banknoten - und Gegenleistungen in Form von günstigen Gesetzen und laxen Kontrollen. Der moderne Lobbyismus, initiiert und perfektioniert von Ilsi, geht viel effizienter und kostengünstiger vor: Er lässt den Staat ganz direkt für sich arbeiten, gratis und unentgeltlich. Und beeinflusst die Entscheidungen so ganz direkt im Sinne der Produzenten des Ungesunden. Das Geld fließt sogar in die umgekehrte Richtung: Die Steuerzahler unterstützen die Ilsi-Geschäfte finanziell, mit direkten Zuwendungen aus der EU-Kasse.
Zum Nachteil der Verbraucher, wie sich am Beispiel der chemischen Zusatzstoffe in industriellen Nahrungsprodukten zeigt: Eigentlich sollte die Bundesrepublik Deutschland den Verbrauch streng überwachen, und zwar schon seit 1995. Die EU hatte das von ihren Mitgliedsstaaten verlangt, weil neue Chemikalien zugelassen wurden, die nur bis zu einer bestimmten Menge unschädlich sind.
Und eigentlich wäre diese Aufgabe Rechkemmers Staatsinstitut zugefallen: Schließlich unternimmt dieses regelmäßig sogenannte „Nationale Verzehrsstudien“.
Allerdings: Die Zusatzstoffe wurden dabei ausgeklammert – und zwar ganz bewusst. Aus Rücksicht auf die Interessen der Industrie, wie Ilsi-Funktionär Rechkemmer bereitwillig einräumte: So verzichteten sie zum Beispiel bei der »Nationalen Verzehrsstudie II« auf solche Fragen. »Wir fragen ja nicht, ob Sie die Haferflocken von Hersteller X oder Y gegessen haben. Wir fragen: Haben Sie Haferflocken gegessen? Haben Sie Chips gegessen?«
Wie viele Zusatzstoffe die Deutschen verspeisen, das mochte Rechkemmer erst gar nicht erfahren. Da müssten ja die Hersteller erklären, wie viel Chemie sie in eine Fünf-Minuten-Terrine mixen. Zu viel verlangt, fand er. »Dann müssten Sie die Informationen von den Firmen haben, wie viel Zusatzstoffe enthalten sind. Keine Firma kann gezwungen werden, ihre exklusiven Formulierungen für die einzelnen Produkte anzugeben. Sie hat schließlich die Urheberschaft einer bestimmten Zusammensetzung. Das ist etwas, worauf der Hersteller ein bestimmtes Anrecht hat, wenn er solche Produkte entwickelt hat, das nicht offenzulegen.« (Siehe Hans-Ulrich Grimm: Vom Verzehr wird abgeraten).
Rechkemmer ist mittlerweile im Ruhestand. Das Ausmaß der Zusatzstoff-Verzehrs möchte sein Institut auch nach seine Ausscheiden nicht überwachen.
Auch sein Nachfolger war zumindest zeitweilig für die Lobbyorganisation Ilsi tätig.
Prof. Dr. Dr. Gerhard Rechkemmer