Als Darmhirn oder »Zweites Gehirn« (»Second Brain«) bezeichnen Wissenschaftler die intelligenten Strukturen im Verdauungstrakt. Denn überraschenderweise hat der Mensch im Darm die gleichen Nervenzellen (Neuronen) wie im Gehirn – und zwar in großer Zahl: 100 Millionen Neuronen, die größte Ansammlung von grauen Zellen außerhalb des Kopfes. Der Grund: Die Notwendigkeit zur Datenverarbeitung, denn der Darm regelt die Nahrungsaufnahme, urteilt über die Qualität des angelieferten Materials, und muss die dort stationierten Immuntruppen mobilisieren, wenn Gefahr droht, etwa durch Krankheitserreger. Die moderne, vor allem die ultra-verarbeitete Nahrung ist dabei eine dauerhafte Bedrohung des Systems.
Als Entdecker des intelligenten Darms und Begründer einer neuen Forschungsrichtung, der Neurogastroenterologie, gilt Professor Michael Gershon von der New Yorker Columbia University. Die neue Disziplin ist mittlerweile weltweit anerkannt und fördert neue Erkenntnisse zutage auch über die Bedeutung der Nahrung für Denken und Fühlen.
Der Darmkanal wird nach ihren Erkenntnissen in mehreren Schichten umhüllt von Nerven, die den Strang überziehen wie dünne Netzstrümpfe. Dort sitzen nicht nur die gleichen Nervenzellen wie im Hirn, dort wirken auch die gleichen Neurotransmitter.
Der Darm muss höchst intelligente Leistungen vollbringen: Er beherbergt das Immunsystem, jedenfalls wesentliche Teile davon, und muss deshalb bei Bedarf Abwehrschlachten organisieren, körpereigene Killerzellen mobilisieren und Angreifer unschädlich machen. Und er muss auch das soziale Gefüge unter Kontrolle halten: Über 500 Bakterienarten leben im Darm, insgesamt 100 Billionen Keime mit einem Gesamtgewicht von bis zu zwei Kilogramm arbeiten bei der Verarbeitung der Nahrung mit – und können dem Körper auch gefährlich werden: Denn viele von ihnen sind potenzielle Killer, könnten einen Menschen umbringen, wenn sie die Oberhand gewinnen.
Der Darm muss daher ständig Daten erheben, aus einer unglaublichen Vielzahl von Informationen auswählen, Entscheidungen fällen, sich an vergangene Maßnahmen erinnern. Er muss die Abwehrkämpfe sinnvoll organisieren – und auch sehen, dass es die Richtigen trifft. Er muss pausenlos handeln, und er trägt dabei eine große Verantwortung: Denn von seinen Maßnahmen hängt unser Leben ab.
Es sind vor allem die chemischen Zusatzstoffe in der modernen Nahrung, die die Darmtätigkeit beeinträchtigen – und damit auch die Psyche und Geistesleistung.
Der sogenannte Geschmacksverstärker Glutamat wirkt ganz direkt aufs Darmgeschehen. Denn der Neurotransmitter zählt auch zu den Stoffen, welche die Aktivitäten des »Zweiten Gehirns« ermöglichen – und, in erhöhter Dosis, Schaden anrichten. In Versuchen reagierten Ratten sowohl durch Glutamat als auch durch den Süßstoff Aspartam (E951) mit Muskelkontraktionen in bestimmten Regionen des Verdauungstraktes.
Glutamat ist bekanntlich ein erregender Botenstoff – und kann daher im Übermaß zu Durchfall, Magenkrämpfen, Reizdarmsyndrom, Blutungen, Übelkeit und Erbrechen führen.
Auch die durch die Erhitzung der meisten industriellen Nahrungsmittel entstehenden Problemstoffe wie die Advanced Glycation End Products (AGEs) können die Vorgänge im Darmhirn zusätzlich beeinträchtigen.
Dass der Darm selbsttätig agieren kann, entdeckten zu Beginn des vorigen Jahrhunderts die britischen Forscher William Bayliss und Ernest Starling. Sie hatten in ihrem Labor einen Hund betäubt und dessen Gedärm ans Tageslicht geholt. Auf Druck reagierte das Verdauungsorgan mit rhythmischen, wellenartigen Muskelbewegungen. Der Darm »dachte«, dass der Nahrungsbrei unterwegs sei und weitergeschoben werden müsste. Sogar als sie alle Nervenverbindungen zum Gehirn kappten, reagierten die Eingeweide auf Druck mit An- und Entspannung.
Daran wirkt unter anderem das sogenannte „Glückshormon“ Serotonin mit, einer der ältesten Neurotransmitter, den es schon seit 700 Millionen Jahren geben soll, und der erstmals isoliert wurde aus der Schleimhaut des menschlichen Magen-Darm-Trakts vom italienischen Pharmakologen Vittorio Erspamer (1909 - 1999) in den 1930er Jahren, bei einem Forschungsaufenthalt in Berlin. Später wurde er auch im Kopfhirn gefunden – doch 95 Prozent davon hat der Mensch im Darm.
Mittlerweile wurden mindestens 40 weitere Nervenbotenstoffe identifiziert, die in der gigantischen Chemiefabrik im Bauch leitende Funktionen ausüben, darunter Glutamat, Dopamin, Norepinephrin, körpereigene Opiate. Auch Benzodiazepine werden hier produziert, jene Chemikalien, die Drogen wie Valium ihre beruhigende Wirkung geben. Und von vielen dieser gefühlsaktiven Substanzen sind die meisten im Darm zu finden.
»Die beiden Gehirne sind verbunden wie siamesische Zwillinge«, schrieb die New York Times. Und: »Wenn das eine verwirrt ist, wird es das andere auch.«
Wenn die Datenverarbeitung im Darm gestört ist, kann die Abwehrkraft geschwächt werden, die Immunbalance aus dem Gleichgewicht geraten. Dann ist der Körper entweder wehrlos gegen Angreifer – oder er schickt seine Truppen aus zur Selbstzerstörung, lässt ihre Waffen gegen den eigenen Körper richten: Bei Allergien beispielsweise. Und den sogenannten Autoimmunkrankheiten.
Viele der rätselhaften Krankheiten, bei denen das Gehirn gestört wird, werden auch als Fehlreaktionen im Immunsystem gedeutet, von Autismus bis Alzheimer, von Parkinson bis zur Multiplen Sklerose.
Zugleich schlagen Probleme im Verdauungstrakt auch aufs Gemüt: 40 Prozent der Reizdarmpatienten leiden an Angsterkrankungen und Depressionen, manche gar an Panikstörungen. Mit Morbus Crohn, einer chronischen Darmentzündung, gehen ebenfalls oft seelische Probleme einher – und eine Psychotherapie bessert oft auch das Brennen im Bauch.
Wenn dort unten Unordnung herrscht, leidet auch oben der Geist. Und wenn das Hirn droben geschädigt ist, zeigen sich merkwürdigerweise auch Schäden im Darm. Bei Patienten mit Krankheiten wie Alzheimer und Parkinson, bei denen bekanntlich wesentliche Gehirnfunktionen gestört sind, fanden sich die gleichen Typen von Gewebeschäden im Bauch, jene Plaques und Neurofibrillen, die sich im geschädigten Gehirn zeigen.
Auch bei hyperaktiven Kindern zeigten sich oft Entzündungen im Darm. Bei Autismus ist der Darm ebenfalls betroffen.
Psychopharmaka wirken häufig auch auf den Darm. Auch Drogen wie Heroin oder Morphium docken an die Opiatrezeptoren des Verdauungstrakts an – und verursachen ebenfalls Verstopfung. Ein Migränemittel beruhigt auch überaktive Eingeweide, Betäubungsmittel können Entzündungen im Darmtrakt in Schach halten. Das erste Medikament gegen die Volkskrankheit Reizdarm ist eigentlich eine Psychodroge, wurde ursprünglich als Medikament gegen Angst entwickelt.