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06.05.2015

DR. WATSON News

Mit Coca-Cola gegen Übergewicht anrennen – das ist Unsinn, meint ein angesehener britischer Herzspezialist. Die „Plattform Ernährung und Bewegung“ - ein Projekt der deutschen Bundesregierung - macht trotzdem munter weiter.
Screenshot: www.pebonline.de

Die Sport-macht-schlank-Lüge

Big Food unter Beschuss – Kritischer Artikel zurückgezogen

Sport macht doch nicht schlank – das hatte ein britischer Herzspezialist in einem Artikel geschrieben, der weltweit für Aufsehen gesorgt hatte. Er griff darin die Nahrungsindustrie scharf an, die für die weltweite Übergewichtsepidemie verantwortlich sei. Jetzt wurde der Artikel zurückgezogen – aus bislang ungeklärten Gründen.

In dieser Woche war der Artikel plötzlich nicht mehr auf den Seiten des Magazins zu finden: Er „wurde vorübergehend entfernt aufgrund von geäußerten Bedenken“.

„Man kann der schlechten Ernährung nicht davonlaufen.“ Das war die zentrale Botschaft des Artikels im British Journal of Sports Medicine (BJSM).

Die Fakten seien klar: In den letzten 30 Jahren, so stellen die britischen Forscher fest, ist das Übergewichtsproblem rapide gewachsen – aber an der Bewegung hat sich nicht viel geändert. An zu wenig Bewegung kann es also nicht liegen, wenn die Menschen dicker geworden sind, folgern die Forscher – deshalb sei es an der Zeit, den „Mythos mangelnder körperlicher Aktivität“ zu verabschieden.

Der Artikel wurde weltweit beachtet, vor allem in den Wissenschaftsmedien, aber auch in der Food-Branche. Und in den Online-Publikumsmedien, etwa der britischen Daily Mail, der BBC, von Heise online und Welt.de.

Der Artikel traf ins Zentrum einer seit Jahrzehnten bewährten Abwehrstrategie der Nahrungsindustrie: Die Behauptung, Sport mache schlank. Wer dick wird, ist sozusagen selbst schuld: Zu wenig Bewegung. Klar. Für die Food-Produzenten ist das natürlich die ideale Entschuldigung: Sie können weiter ihre Dickmacherprodukte unters Volk bringen.

Es ist auch die Lebenslüge auch der deutschen Ernährungspolitik, Basis eines jahrelangen Kuschelkurses mit der Food-Industrie, etwa in der sogenannten „Plattform Ernährung und Bewegung“. Nicht nur Ferrero, Coca-Cola, Mars sind dabei, auch Capri-Sonne, der Fast-Food-Konzern Kentucky Fried Chicken, die Branchenführer Nestlé und Unilever, Dr. Oetker und Danone.

Das ist natürlich besonders lustig, denn gerade sie gelten ja Kritikern als Erzeuger von Dickmacherprodukten. Sie konnten aber bislang mit den Fingern auf ihre kleinen Kunden zeigen und diesen den Schwarzen Peter zuschieben: Zu wenig bewegt. Pech, Dickerchen. Leider zu faul.

Damit ist jetzt Schluss.

Schon der US-Professor Robert Lustig hatte sich gegen diesen „Mythos“ gewandt und vorgerechnet, wie viel Bewegung nötig wäre, um die Speckpolster abzuschmelzen:

Um nur ein Kilo Fett mit einem Brennwert von 5500 Kalorien abzubauen, müsste ein 80-Kilo-Mensch neun Stunden lang Fußball spielen (bei einem Kalorienverbrauch von 600 pro Stunde) oder gar 39 Stunden bügeln (Kalorienverbrauch pro Stunde: 140).

Wer zwei Kilo abnehmen möchte, muss mithin 18 Stunden Fußball spielen oder 78 Stunden bügeln. So viele Hemden hat ja kein Mensch, um seine überschüssigen Kilos abzubügeln. Und auch nicht so viel Zeit.

Völlig illusorisch also, auf diese Weise nennenswert an Gewicht zu verlieren, meint Lustig: "Das zeigt, dass es sehr schwierig ist, durch Bewegung Gewicht abzubauen, wenn nicht vollständig unmöglich."

Die Autoren des jetzt entfernten Artikels hatten sich explizit gegen die Nahrungsindustrie gewandt und sie für Übergewicht und zudem irreführende Public Relations verantwortlich gemacht.

Die Nahrungsindustrie stellt nicht nur die Erzeugnisse her, die nach Ansicht der britischen Wissenschaftler zur „schlechten Ernährung“ („poor diet“) beitragen, sondern lanciere auch den Irrglauben, dass Bewegung der Weg zur schlanken Figur sei:

„Stattdessen werden Verbraucher überflutet von der gar nicht hilfreichen Botschaft, dass sie ein gesundes Körpergewicht über Kalorienzählen halten könnten und viele glauben fälschlicherweise noch immer, dass Adipositas komplett auf einem Bewegungsmangel beruht. Diese falschen Auffassungen entstammen der Maschinerie für Öffentlichkeitsarbeit der Lebensmittel Industrie, welche ruhigstellende Strategien verwendet, die denen von 'Big tobacco' ähnlich sind.“

Aus Sicht der britischen Wissenschaftler um den BJSM-Autor und Herzspezialisten Aseem Malhotra ist es vor allem der Zucker, der einerseits zu Übergewicht und andererseits zu einer Fülle von Krankheiten führe, von der Zuckerkrankheit Diabetes bis zu Herzkrankheiten. Da helfe auch Sport nichts: "Man kann nicht gegen eine schlechte Ernährung anjoggen."

Malhotra und seine Mitautoren fordern, sich endlich vom "Mythos" zu verabschieden, dass Bewegungsfaulheit die Ursache von Übergewicht und Krankheiten sei: "Es ist Zeit, die Schäden, welche die Öffentlichkeitsarbeit der Junk Food Industrie angerichtet hat, zu begrenzen."

Über die Gründe für den Rückzug des Artikels wollten oder konnten sich der Autor, Aseem Malhotra, und der Herausgeber, der kanadische Professor Karim Khan, gegenüber DR. WATSON bis gestern nicht äußern.

Weil das Internet aber so schnell nichts vergisst, lässt sich der inkriminierte Artikel einstweilen noch weiter finden.


Mehr zur Kalorienlüge und Dickmachern in der Nahrung:

Hans-Ulrich Grimm
Die Kalorienlüge. Wie uns die Nahrungsindustrie dick macht.
Knaur Verlag 2015

Mehr zum Zucker und seinen Folgen:

Hans-Ulrich Grimm
Garantiert gesundheitsgefährdend. Wie uns die Zuckermafia krank macht.
Droemer Verlag 304 S. € 18,00
ISBN: 978-3-426-27588-7