Vitamin-D-Pillen: Gut fürs Kind, oder nur für die Konzerne?
Jetzt rühren sie wieder die Werbetrommel, für Vitamin D. Vor allem Kinder litten an einem dramatischen Mangel. Tatsächlich enthält die Muttermilch nur wenig von diesem „Trend-Vitamin“ (WDR). Was hat die Natur da bloß falsch gemacht?
Der Stern schlägt Alarm: „Bis zu 80 Prozent aller Deutschen leiden im Winterhalbjahr unter Vitamin-D-Mangel.“
Die Frankfurter Rundschau sorgt sich rührend um die Kleinen: „Die meisten Kinder leiden an Vitamin D-Mangel“, meldete das Blatt Anfang 2018.
Und die „Stiftung Kindergesundheit“ unter Vorsitz des jüngst etwas in die Kritik geratenen Münchner Professors Berthold Koletzko
(siehe DR. WATSON vom 18. September 2017)
warnte gar in ihrem Newsletter Anfang 2018:
„Von einem riskanten Vitamin-D-Mangel können besonders Säuglinge und Kleinkinder betroffen sein, da der Gehalt der Muttermilch an Vitamin D relativ gering ist“.
Dabei gilt sie als das perfekteste Getränk der Welt, die Muttermilch. Leider hat sie nach Ansicht der Vitaminfreunde offenbar einen verhängnisvollen Fabrikationsfehler. Sie enthält viel zu wenig Vitamin D. Ein schweres Versäumnis, tadeln Muttermilchkritiker, die es natürlich viel besser zu wissen glauben als Mutter Natur: „Im Säuglingsalter reicht die Vitamin D-Versorgung durch die Muttermilch zur Bedarfsdeckung nicht aus“ behauptet zum Beispiel die Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin (DGKJ).
Nun würden natürlich viele denken: Wenn die Muttermilch nur wenig Vitamin D enthält, dann wird das schon Gründe haben. Ganz falsch kann es nicht sein, sonst wären die Menschen ja schon vor Jahrhunderten ausgestorben, oder wenigstens vor Knochenschwäche umgeknickt.
Und tatsächlich scheinen die Kinder mit dem Vitamin D aus der Muttermilch gut klarzukommen. Mehr wollen sie gar nicht. Gegen die Vitamin-D-Dosis aus den Pillen wehren sie sich offenbar sogar nach Kräften.
Das hatte schon 2006 eine Studie der Medizinischen Universität von South Carolina ergeben: Wenn Babys Extra-Vitamin-D per Pille kriegen, haben sie hinterher davon gar nicht mehr im Blut als die Muttermilchtrinker.
Es gab bei den Leveln „keine Unterschiede“ zwischen jenen Säuglingen, die Extra-Vitamin D bekamen und den anderen, die ausschließlich Vitamin-D-arme Muttermilch tranken.
Wieso das? Sie wollen das Zeug offenbar nicht, weil sie es schlicht nicht brauchen. Sie packen es sofort weg. Ab damit ins körpereigene Depot. Denn zu wenig Vitamin D ist nicht gut, weil die Knochen dann morsch werden. Zu viel aber ist auch nicht gut, weil der Mensch dann verkalkt.
Und das kann bei Kindern schon bei 10 Mikrogramm am Tag passieren, warnt das Berliner Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR), die höchste staatliche Behörde in Deutschland in Sachen Lebensmittelsicherheit.
10 Mikrogramm, oder 400 IE (internationale Einheiten). Das ist exakt die Menge, die hierzulande die Kinder sozusagen pflichtmäßig verpasst kriegen. Alle Kinder. Weil die Deutsche Gesellschaft für Ernährung (DGE) das für angemessen hält. Ausnahmslos alle Experten sprechen sich dafür aus. Es gibt niemanden, der diese Pflicht-Vitaminisierung der Kinder anzweifelt.
Doch das Berliner Risikoinstitut berichtet, dass bei „einigen Säuglingen“ die Obergrenzen des Tolerierbaren schon bei dieser Menge „überschritten wurden und Hypercalcämien auftraten“. So steht das auf Seite 68 einer BfR-Stellungnahme zu „Vitaminen in Lebensmitteln“ aus dem Jahre 2004.
Hypercalcämie, das bedeutet: zu viel Kalk im Körper. Die Folge: Verkalkung. Gefahr fürs Herz, fürs Hirn, für Nieren, auch Muskelschwäche kann drohen.
Manche Kinder reagieren deshalb auch mit Abwehr: „Nach der Tablettengabe gings los - spucken, schwallartig, brüllen, die Kinder waren unruhig, wollten nicht mehr schlafen“, berichtet eine Mutter im Internet.
Schrecklich fürs Kind, so ein Vitaminschock. Kein Wunder, dass Mutter Natur die Kinder vor solchen Risiken und Nebenwirkungen durch Vitamin D schützt, und nur sehr wenig davon in die Muttermilch gibt.
Selbst wenn die Mama ihrerseits Extra-Vitamin D schluckt, verschont sie das Kind davon, so die Studie aus South Carolina.
Sie versucht es jedenfalls, so gut es geht.
Wenn die Mutter die besagten 10 Mikrogramm Vitamin D (oder 400 Internationale Einheiten) am Tag schluckt, filtert sie diese offenbar aus der Muttermilch raus, um ihr Kind zu schützen.
Erst wenn die Mutter förmlich damit geflutet wird, mit 6400 IE (160 Mikrogramm), weiß sich ihr Körper nicht mehr anders zu helfen, als etwas davon ans Kind weiterzuleiten.
Die übermäßige Zufuhr von Extra-Vitaminen stört offenbar die Eigenregulation des Körpers, die sonst völlig problemlos funktioniert.
Sobald die Sonne scheint, wird das Vitamin im Körper hergestellt. Schon „3 mal 15 Minuten pro Woche“ sei genug, so das BfR, „um die benötigte Vitamin-D-Menge bereitzustellen“. Ein gewisser Vitamin-D-Vorrat wird im Körper eingelagert, für sonnennarme Tage. Und ein bisschen gibt’s aus der Nahrung, etwa aus
Pilzen, Milch, Butter, Käsen, Fischen und natürlich dem legendären Lebertran.
So weit, so gut.
Doch heute kann sich der Körper oft gar nicht mehr retten vor der allgegenwärtigen Vitamin-D-Flut, aus Arztpraxen und Apotheken, Drogerie und Supermärkten.
Die blaue Pappkiste mit
Orthomol natal etwa („enthält wichtige Nährstoffe für die Entwicklung des Kindes“), mit 15 Mikrogramm (600 i.E.) Vitamin D.
Oder die beliebten Fruchtzwerge von Danone: Auch die enthalten Vitamin D.
Das ist natürlich gut für die Vitaminkonzerne, weil die mehr verkaufen können.
Aber brauchen die Kinder das Zeug überhaupt? Eigentlich nicht, findet ja Mutter Natur.
Die Wahrheit ist: Niemand weiß, wie viel Vitamin D so ein Kind braucht.
Leider kann man „beim Menschen keine exakten Angaben zum Bedarf machen“, konstatierte das staatliche Risikobewertungs-Institut in seiner umfangreichen Stellungnahme zur „Verwendung von Vitaminen in Lebensmitteln“.
Und wenn der Mensch Vitamin D nicht nur durch die Sonne produzieren lässt, sondern auch noch mit der Nahrung aufnimmt, dann schlägt sich das nicht einmal unbedingt in einem höheren Vitamin-D-Gehalt im Blut nieder:
„Die Nahrungsaufnahme an Vitamin D“ so das Institut, „korreliert nur schwach“ mit der Konzentration im Blut.
Überdies herrschen offenbar erstaunliche „Wissenslücken“, etwa über die Speicherkapazität des Körpers. Dabei seien gerade diesbezüglich Informationen wichtig, „um den Bedarf an Vitamin D in Abwesenheit von Sonnenlicht, vor allem in den Wintermonaten in allen Altersgruppen besser beurteilen zu können.“
Das schrieb das Institut schon im Jahre 2004, und daran hat sich nach Auskunft der Behörde auf Anfrage von DR. WATSON bis heute nichts geändert.
Also: Es gibt eigentlich keine seriösen Erkenntnisse über den Bedarf. Niemand weiß, wie viel Vitamin D der Mensch enthalten muss.
Trotzdem wurde der Normwert immer weiter gesteigert.
27,5 Nanomol pro Liter Blut ist okay, entschied der zuständige wissenschaftliche Beraterkreis der Europäischen Union (SCF) im Jahre 2002. Das sind 11,2 Nanogramm pro Milliliter.
Und stellte fest, dass „überraschenderweise“ die niedrigsten Vitamin-Gehalte im Blut der Menschen aus dem sonnigen Süden Europas gemessen würden:
80 Prozent der Griechen lägen unter einem Wert von 30 Nanomol, aber nur 18 Prozent der Norweger.
Ausgerechnet dort, wo viel die Sonne scheint, haben die Leute sogar einen „Mangel“ – jedenfalls nach den heutigen Maßstäben.
Denn: Mittlerweile wurden die Normen verschärft, die Latte sozusagen noch höher gelegt, auf 50 Nanomol pro Liter (20 Nanogramm pro Liter).
Mit exakter Wissenschaft hat das natürlich nichts zu tun: Es handelt sich dabei nur um „Schätzungen“, um „Empfehlungen“, die beispielsweise bei einem „Runden Tisch“ verabschiedet werden.
Die Medien verbreiten dann die Empfehlungen.
„Vitamin D: Viele Menschen unterversorgt“, meldete zum Beispiel der österreichische Standard.
Und verkündete: „Die meisten Menschen sollten Vitamin-D-Präparate einnehmen“. Das Blatt hatte mit einem Mann namens Michael Holick gesprochen und dessen Ansichten einfach übernommen.
Holick ist Direktor der Klinik für Knochenerkrankungen sowie des Forschungszentrums für Heliotherapie, Licht- und Hautforschung im amerikanischen Boston. Und er hat, wie in dieser Szene üblich, eine ganze Schar von Sponsoren aus dem einschlägigen Milieu: Merck, Procter & Gamble, Amgen, Novartis, Quest Diagnostics.
Die Professoren, die lauthals Alarm schlagen, sind mit der Vitaminindustrie in der Regel eng verbunden.
An vorderster Front kämpft dabei Professor Hans Konrad Biesalski von der Universität in Stuttgart-Hohenheim (siehe DR. WATSON vom 29. Mai 2013).
Schon 2009 hatte er ein „Hohenheimer Ernährungsgespräch“ veranstaltet zum Thema „Unzureichende Vitamin-D-Versorgung in Deutschland“.
Und die Europäische Union lädt natürlich regelmäßig die Vitaminhersteller mit ein, wenn es um die Deckung des Vitaminbedarfs geht. Etwa beim EU-Netzwerk mit dem Projektkürzel FP7-613977-ODIN. Der ausführliche Titel: „Nahrungsbasierte Lösungen für optimale Vitamin-D-Versorgung und Gesundheit über das ganze Leben“.
Beteiligt sind Mitarbeiter von insgesamt 30 Institutionen aus 18 Ländern in Europa, darunter auch das deutsche Robert Koch-Institut, die oberste staatliche Stelle zur Seuchenbekämpfung in Deutschland, ebenso wie die Universität Freiburg und die Medizinische Universität im österreichischen Graz.
Als Partner dabei ist auch der weltgrößte Vitaminkonzern, DSM aus Holland, sowie Danone, der Fruchtzwerg-Hersteller, und viele andere mehr. Das ist in der Europäischen Union so üblich: Die interessierte Wirtschaft sitzt mit im Boot.
Mit der Industrie eng verbunden sind auch die führenden Akteure der Stiftung Kindergesundheit. „Warum Babys gerade jetzt Vitamin D brauchen“, titelte sie in ihrem Newsletter im Januar 2018. Und erinnerte daran, dass alle Säuglinge und Kleinkinder bis zum Alter von eineinhalb Jahren
„täglich 400 bis 500 Einheiten Vitamin D 3 ärztlich verordnet bekommen“ sollten.
Und „Professor Dr. Berthold Koletzko, Stoffwechselexperte der Universitätskinderklinik München und Vorsitzender der Stiftung Kindergesundheit“, erläuterte höchstpersönlich die Bedeutung des Vitamins.
Er ist der einflussreichste Experte für Kinderernährung, und einer der geschäftstüchtigsten im Lande. Wie schon sein offizieller Lebenslauf zeigt, dem seine Universität im Internet veröffentlicht, sprudeln die Forschungsgelder nur so, unter anderem vom Fruchtzwerge-Konzern Danone und dem Vitaminkonzern DSM.
Die Stiftung Kindergesundheit hat auch einen „Freundeskreis“, dessen 1. Vorsitzende ist Frau Dr. Karin Bergmann, Geschäftsinhaberin von Dr. Bergmann – Food Relations. Zu ihren Kunden gehört ebenfalls Danone, und der deutsche Vitamin-D-Hersteller Hexal.
Unabhängige Experten sehen den Vitamin-D-Hype eher kritisch: Die Stiftung Warentest berichtet im aktuellen Heft über das „entzauberte Vitamin“.und warnt sogar vor Schäden.
Eher zurückhaltend und kritisch-distanziert sind auch Hormonwissenschaftler („Endokrinologen“) wie der Bochumer Professor Helmut Schatz, langjähriger Pressesprecher der Deutschen Gesellschaft für Endokrinologie.
Zwar ist auch er nicht gegen die standardmäßige Verabreichung von Vitamin D an Säuglinge.
Eindeutig angezeigt sei, so Schatz, Vitamin D zur Rachitisvorbeugung bei Neugeborenen, bei Knochenerweichung durch Darmerkrankungen, bei Niereninsuffizienz und bei Ausfall der Nebenschilddrüsenfunktion. Auch sei es zur „Basistherapie“ bei Osteoporose und zur Vorbeugung dagegen bei Menschen etwa ab 65 Jahren angezeigt, insbesondere wenn sie in Senioren- oder Pflegeheimen leben.
Bei allen anderen Krankheiten sei ein eindeutiger Nutzen nicht bewiesen. Es bringt also nichts, wenn jetzt jeder Vitamin D schluckt, meint der Professor: „Die bislang vorliegenden Befunde erlauben aus meiner Sicht keine Empfehlungen zur Supplementierung von Vitamin D für die Gesamtbevölkerung.“
Er hält es auch nicht für angemessen, von einem „Mangel“ zu sprechen, wenn der Normwert von 50 Nanomol pro Liter (20 Nanogramm pro Milliliter) unterschritten wird.
Nach der Definition des Berliner Robert-Koch-Instituts handle es sich bei Werten zwischen 25 und 50 Nanomol (10 bis 20 Nanogramm pro Liter) lediglich um eine „suboptimale Versorgung“, und erst darunter beginne der „Mangel“.
Wenn bei manchen Krankheiten ein niedriger Vitamin-D-Spiegel gemessen werde, dann sei das mithin kein Beweis dafür, dass Extra-Vitaminpillen heilsam seien. Denn möglicherweise sei bei vielen Krankheiten „ein niedriger Vitamin-D-Status eher die Folge und nicht Ursache dieser Störungen“.
Und ein höherer Vitamin-D-Spiegel bedeutet nicht unbedingt besseres Leben: Ebenso wie zu wenig davon ungesund ist, kann auch zu viel schaden.
Vor allem das Herz ist gefährdet, durch Verkalkung.
So wiesen Forscher der Universität von Kopenhagen im Jahr 2015 nach, dass die Menschen umso mehr an Herzkrankheiten litten, auch Schlaganfälle bekamen, je höher ihr Vitamin-D-Spiegel im Körper war. Sie starben sogar früher, vor allem bei extrem hohem Gehalt am Trend-Vitamin.
Eine Untersuchung vom University College London vom vorigen Jahr mit Bewohnern eines Pflegeheims ergab: diejenigen waren am gebrechlichsten, die Vitamin-D-Pillen zu sich nahmen.
Mutter Natur hat also gute Gründe, die Kinder vor einer Überdosis des Sonnen-Vitamins zu schützen.
Mehr zu Vitaminen und der Frage, was gut ist für Kinder:
Hans-Ulrich Grimm
Gesundes Essen für unsere Kinder
Kinderernährung - was gut ist und was schädlich
Droemer Verlag 2019, 352 Seiten
ISBN: 978-3426301807