West-östlicher Diwan: Was stärkt uns gegen das Virus?
Alle schauen fasziniert nach Osten. Was ist das Erfolgsgeheimnis der Asiaten im Kampf gegen das Virus? Was haben sie, das wir nicht haben? Und was können wir von ihnen lernen für diese (und die nächste) „Pandemie“?
Tatsächlich sind sie weltweit führend, Länder wie Taiwan, Vietnam, Thailand, auch China, Japan, Singapur. Sie halten die Fallzahlen und auch die Sterblichkeit staunenswert niedrig.
Die Medien spekulieren schon über das „asiatische Corona-Rätsel“.
Es sind ja ganz unterschiedliche politische Systeme, kann mithin nicht an totalitären Möglichkeiten direkten Durchregierens liegen. Und auch nicht nur an einer höheren Technikaffinität, breiterer Zustimmung zu Apps und Kontaktüberwachung.
Hat es etwas mit der Kultur zu tun? Es könnte auch eine Mentalitätsfrage sein, meinen manche, eine erhöhte Bereitschaft, individuelle Freiheiten zugunsten gemeinschaftlicher Ziele zurückzustellen.
Auch wunderlich anmutende Erklärungen kursieren, die auf gewisse sprachliche Eigenheiten in der Region abheben, artikulatorische Besonderheiten, die zu reduzierter Tröpfchenemmission führen...
Wunderlich mag zunächst auch eine Erklärung erscheinen, die auf die Ernährung zielt. Mit Sushi und Wok-Gemüse gegen das Virus?
Tatsächlich sind sie dort ja sehr stolz auf ihre kulinarische Kultur, die auch westliche Asienreisende so fasziniert, angefangen bei den Garküchen an den Straßen, dampfende Suppen, Wan Tan, Ramen, Pho, Nudeln und Teigtaschen, Enten und Garnelen, exotische Gewürze, Zitronengras, Zimt.
Und alles hat seit jeher auch eine gesundheitliche Komponente. Ingwer und Knoblauch, das wissen auch schon Westler, sind die Basiselemente zur inneren Stärkung.
Aber im Kampf gegen Corona?
Den führen wir hier lieber mit schwerem Geschütz. Da vertrauen wir ganz auf die Bazooka. Finanziell, zum Ausgleich ausgebliebener Geschäftskontakte. Und pharmazeutisch, zur Imprägnierung gegen Erregerkontakte.
Der Westen im Abwehrmodus: Fixiert auf das Virus, den Erreger, diese Naturkatastrophe, die da über die Welt kam, und für die wir seither auch die epidemiologische Bezeichnung kennen: Pandemie. Den seuchenmedizinischen Superlativ.
Doch jetzt bahnt sich in der globalen Medizinergemeinde eine Wende an. Die Perspektive löst sich von der Fixierung auf den Erreger, sie öffnet den Blick für das Umfeld, die Umstände – und damit auch für neue, nachhaltigere Strategien dagegen.
„Wenn wir die Gesundheit unserer Gesellschaft schützen wollen, ist ein nuancierterer Ansatz erforderlich“, schrieb jetzt der Herausgeber einer der weltweit einflussreichsten medizinischen Fachzeitschriften, des britischen Lancet, in einem Kommentar zur Lage. Und er plädiert für eine neue Begrifflichkeit zur Benennung der Katastrophe.
„COVID-19 ist keine Pandemie. Es ist eine Syndemie“, schreibt Lancet-Herausgeber Richard Horton.
Eine „Syndemie“?
Bei einer „Syndemie“ richtet sich der Fokus nicht nur auf einen Krankheitserreger, sondern auch auf die Umstände, unter denen er operieren kann. Politische Verhältnisse, soziale und finanzielle Gegebenheiten – und auch die gesundheitlichen Voraussetzungen, auf die ein Erreger trifft.
Erst daraus ergibt sich die Bedrohungslage.
Bei der aktuellen „Syndemie“ kämen zwei „Krankheitskategorien“ zusammen, die zur Bedrohung der Bevölkerung werden: Zum einen das grassierende Virus - und zum anderen die längst ebenfalls zur Seuche gewordenen sogenannten Zivilisationskrankheiten wie etwa Krebs, Bluthochdruck, Herzleiden, die Zuckerkrankheit Diabetes.
Im medizinischen Fachjargon werden sie die „Nichtübertragbaren Krankheiten“ genannt (Non Communicable Diseases, kurz NCDs).
Sie allein kosten insgesamt 41 Millionen Menschen im Jahr das Leben, sind nach Daten der Weltgesundheitsorganisation für 71 Prozent aller Todesfälle weltweit verantwortlich.
Und jetzt bereiten sie auch noch den Weg für SARS-CoV-2, ermöglichen, dass es überhaupt erst eine tödliche Schneise auf diesem Planeten schlagen kann.
Die Corona-Krise ist demnach also keineswegs das Ergebnis einer vermeintlichen Naturkatastrophe, sondern das verhängnisvolle Joint-Venture zweier Gesundheitsstörer.
Wer dagegen kämpfen will, muss mithin nicht nur gegen das Virus vorgehen, sondern auch gegen diese Massenkrankheiten, meint Lancet-Herausgeber Horton: „COVID-19 anzugehen bedeutet, Bluthochdruck, Adipositas, Diabetes, kardiovaskuläre und chronische Atemwegserkrankungen sowie Krebs zu bekämpfen.“
Doch hierzulande konzentriert sich alles auf den Kampf gegen Corona, im Zentrum der Hoffnung dabei ein einziges Instrument: die Impfung. Schon räumen sie Hallen und Stadien frei, organisieren Helfer und Transporte.
Denn es gibt überraschend viele Schutzbedürftige, die „prioritär“ geimpft werden sollen.
Das sind die „Vulnerablen“. Vulnerabel, das bedeutet, wie mittlerweile alle wissen: verletzlich. Und das sind Millionen, viele Millionen von Menschen in unserem Land.
Doch auch das nehmen Medien und Öffentlichkeit erstaunlich gleichmütig hin, vielleicht sogar, wie es ihre Art ist, ein bisschen mitleidig.
Wobei es in Wahrheit natürlich ein Skandal ist, wenn ein Großteil der Bevölkerung als angeschlagen angezählt wird, und zwar vom Berliner Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) höchstpersönlich: "Wenn Sie nach der Definition gehen, sind 30 bis 40 Prozent der Bevölkerung Risikogruppe."
Auch das hatte die Regierung ausrechnen lassen: Wie viele „Verletzliche“ es gibt im Land. Und da kam tatsächlich eine erschreckende Zahl heraus:
27 Millionen Menschen sollen es sein in der Bundesrepublik Deutschland.
Wenn so viele chronisch krank sind und somit besonders verletzlich, dann sollte das für den Minister der Gesundheit eigentlich ein Alarmzeichen sein, gerade wenn es die Bedrohung im Land durch das neue Virus dramatisch erhöht.
Doch für den Gesundheitsminister sind die Massenerkrankungen merkwürdigerweise ein Zeichen von besonderem Wohlstand: "Wir sind ein Wohlstandsland mit Zivilisationskrankheiten: Diabetes, Bluthochdruck, Übergewichtigkeit. Alles Risikofaktoren für dieses Virus, wie für viele Infektionskrankheiten übrigens auch."
Will sagen: Ist halt so. Kann man auch nichts machen. Und außerdem: Die Bundesrepublik sei schließlich nach Japan das zweitälteste Land der Welt.
Nur: Gerade in Japan werden viel weniger Menschen zum Corona-Opfer als hier.
Während in Deutschland bis Anfang Dezember 20,71 Todesfälle pro 100.000 Einwohner zu beklagen waren, kam Japan in diesem Zusammenhang nur auf 1,67 Todesfälle.
Und ähnlich war es auch in anderen asiatischen Ländern: China kam nur auf 0,34 Todesfälle auf 100.000 Einwohner.
In Thailand waren es sogar nur 0,09, in Vietnam 0,04, in Taiwan 0,03 (aktualisierte Zahlen hat die Johns Hopkins University).
Asiatische Lektionen.
Und wenn nun die Frage ist, weshalb die Asiaten zum heimlichen Vorbild avanciert sind in dieser „Syndemie“, dann müsste es zunächst darum gehen, warum bei uns fast die Hälfte der Bevölkerung ohnehin schon krank ist, wenn das Virus auf sie trifft.
Was haben wir, das die nicht haben – und uns krank macht?
Und da spielt sie tatsächlich eine Rolle, die kulinarische Kultur, das Ernährungssystem.
Denn das Risiko für jene „Zivilisationskrankheiten“, die empfänglich machen für COVID-19, das steigt durch die sogenannte „Westliche Ernährung“, die hierzulande dominiert. Sie gilt auch nach Auffassung der Weltgesundheitsorganisation als wesentliche Ursache für die Nichtübertragbaren Krankheiten.
Das ist das wesentliche Element im Ost-West-Gefälle beim Corona-Risiko.
Asiatische Lektionen: Sie sind besser dran, weil sie ihre eigenen kulinarischen Kulturen pflegen, ein immer noch weithin traditionelles Ernährungssystem aufrechterhalten.
Und das sich fundamental unterscheidet von dem, was auf der Welt dominiert: die sogenannte Westliche Ernährung, und insbesondere die „ultra-verarbeitete“ Nahrung, Fast Food, Fertiggerichte, Soft Drinks.
Sie holen zwar rapide auf, beim Konsum der Krankmacher-Nahrung.
Doch wird es nach offiziellen Angaben noch bis ins Jahr 2035 dauern, bis sie da mit uns gleichgezogen haben.
Unterdessen wächst auch im Westen, wenigstens in Wissenschaftskreisen, die Neigung, der Ernährungskultur eine zentrale Rolle einzuräumen, wenn es um die Gesundheit geht. So etwa bei Medizinexperten der weltweit führenden Universität Harvard, die in diesem Corona-Sommer 2020, zusammen mit Forschern anderer Institutionen, proklamiert haben: „Essen ist Medizin“.
Gerade „angesichts der weltweiten Epidemie ernährungsbedingter chronischer Krankheiten“ sei es an der Zeit für „Aktionen zur Integration von Nahrung und Ernährung in die Gesundheitsversorgung“, und zwar bei der „Vorbeugung, Bewältigung und Behandlung von Krankheiten“.
Wahrscheinlich wäre das die nachhaltigere Strategie im Kampf gegen weltumspannende Krankheitsgefahren.
Die Impfung jedenfalls, auf der jetzt alle Hoffnungen ruhen, wird das sicher nicht sein.
Sie wird ja auch der Problemlage in der aktuellen „Syndemie“ nicht gerecht, trifft nur den einen Übeltäter in dem Duett des Grauens, das derzeit regiert: das Virus. Gar nichts hilft es gegen die andere Seite, die „Vorerkrankungen“, die übrigens auch dafür sorgen, dass die Impfung womöglich ausgerechnet bei den „Vulnerablen“ gar nicht die erhofften Erfolge bringt, weil das Immunsystem bei ihnen aufgrund ihrer gesundheitlichen Beeinträchtigungen nicht im erforderlichen Maße stimuliert werden kann.
Und das wird beim nächsten Virus auch nicht besser. Auch diesem werden die Vulnerablen wieder schutzlos ausgeliefert sein. Denn ihre „Vorerkrankungen“ sind „Risikofaktoren“ für „viele Infektionskrankheiten“, wie der Bundesgesundheitsminister sagt.
Vor allem aber ist die Fixierung auf die nächste Impfung auch keine angemessene Zukunftsstrategie. Sie hilft vor allem jenen nicht, die jetzt von COVID-19 kaum betroffen
sind – aber später die Zeche zahlen müssen, die Schulden des Staates, für Ausgleichszahlungen an Klubs und Kneipen beispielsweise, die sie derzeit gar nicht aufsuchen dürfen.
Die Jüngeren, die aus der Generation Red Bull, erkranken kaum, und sie haben ein äußerst geringes Mortalitätsrisiko.
Allerdings: Das wird bei künftigen „Syndemien“ schon anders sein. Wenn wieder ein Virus zusammenwirkt mit Vorerkrankungen.
Der Erreger ist noch nicht auszumachen. Die Vorerkrankungen schon.
Bluthochdruck zum Beispiel, und zwar, wie Ärzte in Deutschland beklagen, schon bei Kindern.
Ursache, zum Beispiel: Energydrinks.
Asiatische Lektionen? Das Virus bringt nur ans Licht, woran die Gesellschaft krankt.
Sicher ist: Eine kranke Gesellschaft hat keine Zukunft.
Und Sushi, Wok-Gemüse, auch Frühlingsrollen sind keine schlechte Idee, um die Zukunftsfähigkeit zu verbessern.
Oder Antipasti, Risotto mit Spargel, Paella, ebenso Heidelbeeren, Pilze, Fisch: die „Mediterrane“ oder auch die „Nordische Ernährung“, sagt die Weltgesundheitsorganisation, sind ebenfalls gut gegen die Zivilisationskrankheiten
– und können mithin besser gegen COVID-19 wappnen.
Das wäre die angemessene Gesundheitsstrategie im 21. Jahrhundert.
So wird die Zukunft nicht nur gesünder, sondern auch genussvoller.
Mehr über Gesundheit und die Bedeutung des Ernährungssystems:
Hans-Ulrich Grimm:
Food War
Wie Nahrungsmittelkonzerne und Pharmariesen unsere Gesundheit für ihre Profite aufs Spiel setzen
Droemer Verlag 2020, 256 Seiten
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