Zurück

Lebensmittelsicherheit

„Noch nie waren die Lebensmittel so sicher wie heute.“ Das versichern Politik, Behörden und Medien immer wieder, gestützt auf die geltenden Bestimmungen. Diese aber werden der aktuellen Bedrohung der Verbrauchergesundheit nicht gerecht. Denn im 21. Jahrhundert hat sich die Bedrohungslage verändert. Neue Risiken dominieren gegenüber den alten, klassischen Krankheitserregern aus der Nahrung, den Viren, Bakterien, der Kontamination mit Schadstoffen. Das herrschende industrielle Ernährungssystem stellt Nahrungsmittel bereit, die zwar als „sicher“ gelten, gleichwohl aber millionenfach zu Krankheiten und einer wachsenden Zahl von Todesfällen führen. Forscher fordern daher mit Nachdruck, dass auch die modernen Nahrungsrisiken regulatorisch berücksichtigt werden, etwa wenn es um Steuern, Werbung und Verbraucheraufklärung geht.

 

Beispiel Softdrinks: Sie gelten als absolut sicher, obwohl allein sie für 180.000 Todesfälle jedes Jahr verantwortlich sein sollen, nach Ermittlungen der renommierten US-amerikanischen Harvard Universität.

 

Die Sicherheit der Lebensmittel ist für die Menschen von existenzieller Bedeutung. Ihr Leben und ihre Gesundheit hängen davon ab. Das Lebensmittelrecht sollte dazu dienen, die Sicherheit der Nahrung und den Schutz der Gesundheit zu gewährleisten.

 

In früheren Zeiten hatte der Schutz der Konsumenten vor Gefährdung durch nicht adäquate Nahrung höchste Priorität. Wer mit seinen Produkten die Gesundheit der Konsumenten gefährdete, wurde verfolgt und streng bestraft. Im europäischen Mittelalter waren es in erster Linie Betrügereien und Fälschungen, gegen die „Obrigkeit“ mit aller zu Gebote stehenden Macht einschritt (Geschmacksfälschung). 

 

Doch der herrschende Begriff von Lebensmittelsicherheit ignoriert die modernen Risiken durch industrielle Verarbeitung, hohe Mengen von Zucker, Salz, chemische Zusatzstoffe. 

 

Sie befördern maßgeblich die Bedrohung in bisher nicht gekannten Ausmaß durch die sogenannten Zivilisationskrankheiten (im globalen Fachjargon: die nichtübertragbaren Krankheiten, Non Communicable Diseases, kurz NCD): Herzkrankheiten beispielsweise, Diabetes, Alzheimer, Krebs. Millionen von Menschen sollen daran pro Jahr weltweit sterben.

 

Als wesentliche Ursache gilt die sogenannte Westliche Ernährung, insbesondere die ultra-verarbeitete Nahrung, Fastfood, Fertiggerichte, Softdrinks. Doch diese Nahrungsmittel gelten als vollkommen „sicher“. Die dabei beteiligten Nahrungsbestandteile, Zucker, Salz, chemische Zusatzstoffe, spielen im Begriff der „Nahrungssicherheit“ keine Rolle.

 

Denn für Politik und Behörden ist alles „sicher“, was nicht von Viren oder Bakterien, Giften und Schadstoffen befallen ist.

 

Sie stützen sich dabei auf die lebensmittelrechtliche Position der Europäischen Union, die festgehalten ist in der Verordnung (EG) Nr. 178/2002 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 28. Januar 2002.

 

Dort heißt es in Artikel 15 (5): „Bei der Entscheidung der Frage, ob ein Lebensmittel für den Verzehr durch den Menschen ungeeignet ist, ist zu berücksichtigen, ob das Lebensmittel infolge einer durch Fremdstoffe oder auf andere Weise bewirkten Kontamination, durch Fäulnis, Verderb oder Zersetzung ausgehend von dem beabsichtigten Verwendungszweck nicht für den Verzehr durch den Menschen inakzeptabel geworden ist.“

 

Dieses Verständnis von Nahrungssicherheit entspricht dem Denken voriger Jahrhunderte, erfasst die neuen, von modernen industriellen Nahrungsmitteln ausgehenden Gesundheitsgefährdungen nicht.

 

Bei der „Western Diet“ sind es nicht nur Verunreinigungen, Verderbnis, Kontaminationen, die zu Krankheiten führen können. Es sind die rezepturgemäßen Inhaltsstoffe selbst, die zum Risiko werden, und die Art der Herstellung. Die Bedrohung hat damit eine neue Qualität erreicht.

 

Beispiel Zucker: In den USA hat seit 1958 den GRAS-Status („Generally Recognized As Safe“), im Jahre 1983 hat die FDA das GRAS-Prädikat auch dem High Fructose Corn Syrup (HFCS) verliehen. Trotz gestiegener Verzehrmengen und neuer Erkenntnisse über Gesundheitsrisiken, den Beitrag der süßen Substanzen zu Übergewicht und dem sogenannten Metabolischen Syndrom, hat die FDA in den Jahren 1996 und 2004 ihre Einschätzung der Sicherheit dieser Substanzen noch bekräftigt. 

 

Kritiker fordern daher, den Schutz der Gesundheit wieder in den Vordergrund zu stellen und die dafür nötigen rechtlichen Voraussetzungen zu schaffen. Auch der Begriff der Lebensmittelsicherheit sei an die neuen Gegebenheiten anzupassen, Nahrungselemente von hohem Gefährdungspotential müssten schärfer reguliert werden.

 

Auch mit den Mitteln der Finanzpolitik könnte die „gesunde Wahl“ erleichtert werden: durch Steuern auf Ungesundes wie Zucker.

 

Im New England Journal of Medicine schlug Yale-Professor Kenny D. Brownell zusammen mit Thomas Frieden, dem Direktor des Centers for Disease Control and Prevention (CDC), der obersten US-Gesundheits-Überwachungshörde, eine Softdrink-Steuer vor.

 

Brownell hat den Begriff der giftigen Nahrungsumgebung geprägt (Toxic Food Environment). Für ihn existiert eine ursächliche Verbindung zwischen dem Umfeld und der grassierenden Fettleibigkeit. Die einzige Lösung bestünde in der Veränderung dieses Umfelds, sagt Brownell: „Als Gesellschaft haben wir zwei Möglichkeiten“, sagt er, „wir können einige tausend Jahre lang darauf warten, dass sich unsere Evolution unserer giftigen Umwelt anpasst. Oder wir können die Umwelt so verändern, dass sie uns nicht mehr krank macht.“

 

Professor Carlos A. Monteiro, der Pionier bei der Erforschung der Kosten, Risiken und Nebenwirkungen von ultraverarbeiteten Nahrungsmitteln, schlägt ein ganzes Bündel von Maßnahmen vor, um eine gesündere und nachhaltigere Versorgung mit Lebensmitteln zu erreichen. Da geht es beispielsweise um den Zucker, aber auch um die ganze moderne Nahrungskette, an deren Spitze er steht. Zunächst sollte, ganz generell, die Förderung des Ungesunden gestoppt werden:

 

»Alle Subventionen und sonstigen Anreize für den Anbau von Pflanzen, die ausschließlich oder überwiegend als Zutaten für ultraverarbeitete Lebensmittel oder als Futtermittel für Tiere, die hauptsächlich für ultraverarbeitete Lebensmittel bestimmt sind, verwendet werden, sollten gestrichen werden, und die Zerstörung von Wäldern und anderen ökologisch wertvollen Flächen, um solche Pflanzen anzubauen oder Tiere zu halten, sollte verboten werden.«

 

Sodann sollten die gesamtgesellschaftlichen Folgekosten der ungesunden ultraverarbeiteten Nahrung ermittelt werden:

 

»Die Maßnahmen sollten regelmäßig aktualisierte Schätzungen der finanziellen und sonstigen Kosten der persönlichen, sozialen, kulturellen und ökologischen Auswirkungen von ultra­verarbeiteten Lebensmitteln sowie der entsprechenden Kosten umfassen«, fordert Monteiro.

 

Diese Kosten sollten dann sinnvollerweise auf die ungesunden Produkte übertragen werden: »Die Besteuerung sollte in zwei Stufen erfolgen. Die erste Steuer sollte auf Zutaten erhoben werden, die ausschließlich von Herstellern ultraveredelter Lebensmittel verwendet werden, insbesondere kosmetische Zusatzstoffe. Die zweite Steuer sollte auf das Produkt erhoben werden, das an Verbraucher verkauft wird. Die Besteuerungsniveaus sollten so berechnet werden, dass Einnahmen erzielt werden, die einem erheblichen Prozentsatz der derzeit von den Kapitalgesellschaften erzielten Gewinne entsprechen.

 

Und die Einnahmen sollten schließlich zur Verbesserung von Nahrung und Ernährung verwendet werden.

 

»Mit den erzielten Steuereinnahmen sollten Programme zur Unterstützung der Produktion und des Konsums gesunder Lebensmittel, zur Verbesserung der öffentlichen Gesundheit und zur Überwachung der Fortschritte finanziert werden. Ein Großteil der Einnahmen sollte verwendet werden, um lokale Genossenschafts- und Familienbauern und Kleinhändler zu unterstützen, unverarbeitete und minimal verarbeitete Lebensmittel verfügbarer und erschwinglicher zu machen, gesunde Mahlzeiten in Schulen, Krankenhäusern und Gefängnissen sicherzustellen und die Einzelhandelspreise für unverarbeitete und minimal verarbeitete Lebensmittel zu subventionieren oder anderweitig zu senken oder zu stabilisieren, damit sie für gefährdete Gemeinschaften und Familien erschwinglich sind.«

 

Auch die Weltgesundheitsorganisation (WHO) setzt sich für solche Maßnahmen ein. Im British Medical Journal forderten WHO-Experten um Francesco Branca die »radikale Transformation« des herrschenden Nahrungssystems. Das Ziel ist klar: eine »gesunde Nahrungsumgebung«, damit entsprechende Lebensmittel allgemein verfügbar und billiger werden.

 

Die »Ernährungs-, Landwirtschafts- und Handelspolitik«, die einst entwickelt wurden, »um die Quantität und nicht die Qualität der Lebensmittel zu gewährleisten«, müsse die »Anreize umstellen« und eher die Qualität in den Vordergrund rücken.

 

Dazu gehören nach Ansicht der WHO-Autoren Maßnahmen bei Steuern und Subventionen, zudem Werbeverbote, vor allem bei Kindern. So sollte endlich gegen »unangemessene« Vermarktung von Problemprodukten für Säuglinge und kleine Kinder eingeschritten werden; darüber hinaus sollten Verbote bei ungesunden Inhaltsstoffen ausgesprochen und bessere Standards für Schulnahrung eingeführt werden.

 

Das alles im globalen Maßstab, und zwar möglichst schnell, denn die globalen Schäden durch das herrschende Nahrungssystem nehmen noch zu, nicht nur in Sachen Gesundheit, auch für die Wirtschaft, für die Umwelt, das Klima, und zwar um 50 bis 90 Prozent bis zum Jahr 2050 – »wenn die Systeme nicht transformiert werden«.