Immer schön mager: Model mit Ozempic-Werbung auf der Berliner Modewoche.
Stars schwärmen von den neuen Abnehmdrogen. Professoren werben dafür, gern auch gegen Bares. Sie wirken direkt im Gehirn. Dort, wo die Lust entsteht. Die Folgen können fatal sein.
Es scheint ein wahres Wundermittel zu sein. Abnehmen ohne Mühe - davon träumen viele. Überall auf der Welt.
Bei der diesjährigen Verleihung des US-Filmpreises „Golden Globe“ in Hollywood gab es für die Medien vor allem eine Frage: Wer von den Stars und Sternchen es wohl nimmt?
Elon Musk, der reichste Mann der Welt, hat sich, kürzlich an Weihnachten, dazu bekannt. Bei den Berliner Modewochen lief ein Model dafür Reklame (Screenshot: Instagram). Und eine Zeit-Redakteurin berichtete über ihren Selbstversuch („Wie fühlt sich das an, ein Leben ohne Appetit?“).
„Schleichwerbung“, schäumte das Ärzteblatt, und dass sie ein Medikament genommen hat, „das ihr nicht zusteht“. Wo es doch eh schon so knapp ist.
Und die Mediziner werben auch gern selber dafür, für ordentlich viel Geld.
In den USA waren es mindestens 25,8 Millionen Dollar, so das Medienunternehmen Reuters. Ein einziger Professor bekam 1,4 Millionen Dollar, für „Beratungstätigkeit und Reisen“.
Auch in Deutschland gibt es umfangreiche Zuwendungslisten mit vielen Empfangenden. Eine von ihnen: Dr. Annette Hammes, Fachärztin für Adipositas und Diabetes im Klinikum Saarbrücken. Das Medikament lobt sie sehr: „Es hat sich auch hier in der Therapie gut bewährt“.
Die „positive Risiko-Nutzen-Bilanz dieser Präparate“ lobte diese Woche Professor Frank Tacke von der Berliner Charité, etwa in der Süddeutschen Zeitung (SZ) und der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ).
Was sie leider nicht erwähnten: Klinikdirektor Tacke steht auch auf einer Referentenliste des dänischen Pharmakonzerns Novo Nordisk. Also dem Hersteller des berühmtesten dieser „Präparate“.
Lächeln für die Abnehmdroge: Der Charité-Professor steht auf der Rednerliste des Marktführer-Konzerns Ozempic (Screenshot: Novo Nordisk).
Der Ozempic-Hersteller, der den Professor auf seinen Internetseiten präsentiert, ist mittlerweile das wertvollste Unternehmen Europas. Auch dank seiner Abspeckdrogen.
Das ist nun wirklich verrückt. Mit solchen Drogen lässt sich heute offenbar mehr verdienen als mit Autos oder Flugzeugen, mit Bomben oder Panzern.
Da muss tatsächlich einiges aus dem Ruder gelaufen sein.
Schließlich ist es kaum vorstellbar, dass ein Löwe in der Savanne erst mal in die Apotheke muss, zur Gewichtsregulierung, bevor er auf Antilopenjagd gehen kann.
Nur der Mensch muss das. Weil bei uns die natürlichen Mechanismen nicht mehr funktionieren. Weil sie manipuliert worden sind, durch das, was mittlerweile die meisten zu futtern kriegen, von der Kita bis ins Altersheim. Weil es so billig schien.
Jetzt allerdings kann es uns teuer zu stehen kommen. Die Kosten liegen bei mehreren hundert Euro pro Monat, in den USA bei 1300 Dollar. In der Schweiz sind diese Drogen schon in die Top 10 der umsatzstärksten Arzneienaufgestiegen. In Deutschland fürchten Insider schon den Kollaps des Systems.
Denn es kann noch viel teurer werden: Die Abspeck-Medikamente, zunächst zugelassen für Diabetes Typ 2, sollen auch gegen stolze 42 andere Krankheiten helfen, die oft mit überflüssigen Kilos einhergehen. So eine neue Studie, von der in dieser Woche führende Medien wie SZ und FAZ so begeistert waren, dass sie den Professor aus Berlin zitierten, der so gern für den Herstellerkonzern spricht.
Bei unebhängigen Fachleuten ist die Begeisterung nicht ganz so einhellig. Denn auch zu den Nebenwirkungen gibt es ständig neue Meldungen. Sogar über Todesfälle.
Es ist ein Menschheitsexperiment mit ungewissem Ausgang.
Die neuen Drogen zielen auf das medizinische Zentralproblem der Menschheit: Übergewicht. Milliardengewinne locken. Daher die Euphorie im Finanzsektor. Und im Medizinsektor herrschte Begeisterung, weil sie es geschafft hatten, in einem ganz zentralen Schaltkreis im Gehirn ansetzen.
Doch jetzt scheint sich da etwas zu drehen. Es könnte kippen. Denn so ganz genau weiß niemand, wie die neuen Medikamente wirken. Nicht einmal die Forscher, die sie entwickelt haben.
Jene Frau zum Beispiel, die von den Medien als die „Mutter der Abnehmspritze“ gefeiert wird: die Biochemikerin Svetlana Mojsov von der New Yorker Rockefeller University. Sie hat mit ihrer Forschung in den 1980er Jahren die Basis bereitet für die Entwicklung der Medikamente. Und sie sagt ganz offen: „Die nächste Herausforderung besteht darin, die Biologie hinter den Auswirkungen von Ozempic auf das Gehirn zu verstehen“.
Doch dann ist es offenbar irgendwie zu schnell gegangen.
Die ersten Medikamente der neuen Produktgruppe kamen 2005 auf den Markt. 2017 genehmigte die US-Arzneimittelbehörde FDA den Ozempic-Wirkstoff Semaglutid. 2021 begann der Boom. 2024 sollen sie von jedem achten Erwachsenen in den USA genutzt worden sein. Bis 2030 sollen der Umsatz mit diesen Mitteln bei 130 Milliarden Dollar liegen.
Das bedeutet: Immer mehr Menschen lassen sündhaft teure Chemie auf sich wirken, deren Folgen nur unvollständig bekannt sind. Irgendwie, so tönt es etwas vage aus der Wissenschaft, senden diese Mittel ein Signal aus, ein „Ping ans Gehirn, mit dem Essen aufzuhören“.
Und auch wenn nicht genau klar ist, was dieser „Ping“ in unseren grauen Zellen auslöst: Die Folgen sind deutlich sichtbar. Zum Beispiel im Supermarkt.
Zum Beispiel bei einem amerikanischen Autohändler namens Trinian Taylor, 52, über den die New York Times berichtet hatte. Taylor bekam 150 Dollar dafür, dass er sich „beschatten“ ließ, von einem Unternehmen, das unter anderem für Junkfood-Firmen wie McDonald’s und Pepsi arbeitet. Sie sind durch die neuen Drogen alarmiert. Und nach wenigen Schritten wird schon klar, warum.
Denn Testkunde Taylor fuhr mit seinem Einkaufswagen ungerührt an den Regalreihen mit all dem Junk vorbei. Snacks und Süßigkeiten, Oreo-Kekse, Chips von Lay’s, alles ließ er liegen.
Stattdessen steuerte er zu seinem neuen Lieblingsort: der Obst- und Gemüseabteilung.
Er inspizierte die Waren. „Ich nehme all das“, sagte er zur Times-Reporterin: „Ich esse viel Ananas. Viel Ananas, Gurke, Ingwer. Oh, viel Ingwer.“
Früher sei er zuckersüchtig gewesen. Aber jetzt kann er solche die Leckereien nicht mehr vertragen.
Ein paar Tage zuvor hatte seine Tochter ihm Süßigkeiten gegeben. „Ich konnte einfach nicht“, sagte er. „Es war so süß, dass ich fast erstickt wäre.“
Er hat Dosenlimonaden und Fruchtsäften abgeschworen und versetzt sein Wasser mit Zitrone und Gurke. Er ließ eine schwere Tüte Zitronen in den Einkaufswagen fallen und schlenderte zum Blattgemüse.
„Ich liebe Mangold“, sagte er. „Ich esse viel Grünkohl.“
Eigentlich sehr erfreulich. Es wirkt, als ob da jemand einen Schalter umgelegt hätte. Von ungesund auf gesund. Von künstlich auf echt.
Nur: bei ihm hatte schon vorher etwas nicht gestimmt mit dem Schalter. Wie bei vielen anderen auch.
Denn es muss einen Grund haben, dass kein Tier auf dieser Welt dick wird. Es gibt keine dicken Löwen, keine adipösen Adler, die das zulässige Startgewicht überschreiten. Bär, Pinguin, Zebra: alle halten ihre Figur. Kein Wesen in der Natur hat da irgendwelche Probleme. Alles wunderbar geregelt.
Nur der Mensch nimmt zu. Warum nur?
Das hatte sich ein Mann namens Paul Kenny aus Irland auch gefragt, der im Jahre 2000 in die USA gezogen war – und gleich ordentlich zugelegt hat: fast 14 Kilo in zwei Jahren.
Um herauszufinden, was da passiert, hat der Neurowissenschaftler vom Mount Sinai Hospital in New York, zusammen mit seinem Kollege Paul Johnson ein Experiment entwickelt: Mit Ratten, die erst das übliche, traditionelle Futter ihrer Gattung bekamen, und keinerlei Auffälligkeiten zeigten, auch ihr Gewicht hielten. Anders, als die armen Tiere plötzlich das gleiche zu futtern kriegten wie die US-Menschen. Bacon, Snickers, Cheesecake und so weiter.
Das Ergebnis, wiederum in der New York Times zu lesen: „Sie waren verrückt danach.“ Und innerhalb von sechs Wochen stiegen ihre Fettleibigkeitsraten „sprunghaft an“.
Die „westliche Ernährung“ manipuliert offenbar also jene Zonen im Gehirn, die für Hunger und Sättigung, Lust und Überdruss, Appetit und Widerwillen zuständig sind.
Die neuen Drogen zielen auf genau die gleichen Zentren – und erreichen so die spektakulären Erfolge.
Die Medikamente sind mithin „eine künstliche Lösung für ein künstliches Problem“, meint Michael Lowe, Psychologieprofessor an der Drexel University in Philadephia im US-Staat Pennsylvania, der seit 40 Jahren zum Thema Hunger forscht.
Sie wirken in einer der ältesten Regionen des Gehirns, von existenzieller Bedeutung für die Menschheit, dem sogenannten Belohnungszentrum, im Bereich einer Zone namens Nucleus accumbens. Dort befinden sich Rezeptoren für ein Hormon namens Dopamin: die Rezeptoren vom Typ D1.
Wenn diese stimuliert werden, löst das Glücksgefühle aus.
Beim Essen und beim Sex zum Beispiel, sinnvollen Verrichtungen also, die der Selbst- und Arterhaltung dienen. Deshalb hat sie der liebe Gott oder Mutter Natur mit chemischen Signalen im Gehirn verknüpft hat, die Freudengefühle auslösen. Damit die Menschen das auch gerne machen, was ihre Existenz sichert.
Ozempic & Co. grätschen offenbar genau dort dazwischen. In einem ganz zentralen System der menschlichen Existenz. Das haben die Pharmakonzerne jetzt „sozusagen gekapert“, sagt Matthew Hayes, Ernährungsneurowissenschaftler an der University of Pennsylvania.
Die neuen Substanzen imitieren natürliche Signalstoffe. Aber viel intensiver und nachdrücklicher. Während ihre natürlichen Vorbilder nur ein bis zwei Minuten halten, schaffen es die synthetischen Schöpfungen der Pharmakonzerne bis zu einer Woche.
Das hat dramatische Folgen. Manche sind sichtbar, auf der Waage zum Beispiel, wenn die Pfunde purzeln. Und dann plötzlich zu viel Haut herumhängt, im Ozempic-Gesicht“, oder weiter unten.
Weil durch den „Ping im Gehirn“ das ganze Verdauungssystem umgesteuert wird, kann es da Probleme geben. Wie bei Lottie Moss zum Beispiel, der kleinen Schwester vom einstigen Topmodel Kate Moss, die sogar in die Notaufnahme musste – wegen Übelkeit, Erbrechen, Krampfanfällen („Ich würde lieber sterben, als es noch einmal zu nehmen“).
Zwölf Opfer hatten sogar schon gegen Hersteller Novo Nordisk geklagt – wegen chronischen Durchfalls.
Weil die Drogen die Freudengefühle im sogenannten „Belohnungszentrum“ des Gehirns dämpfen, leidet auch die Lust ganz allgemein. Am Sex, zum Beispiel.
Im Beipackzettel für solche Produkte wird darauf hingewiesen, dass sexuelle Funktionsstörungen auftreten könnten. Laut einer Studie taucht das Problem bei einem von 75 Männern auf, die das Medikament einnehmen.
Und manche verlieren auch gleich die Lust am Leben. Medizinische Fachjournale veröffentlichen Fallberichte über Ozempic-Depressionen. Bei den zuständigen Behörden in den USA und Europa gingen hunderte von Berichten ein über Selbstverletzung, Selbstmordgedanken oder sogar suizidales Verhalten.
Die amtlichen Prüfungen allerdings ergaben „keinen kausalen Zusammenhang“ mit den betreffenden Drogen. Schließlich könnte der Gewichtsverlust die Menschen auch psychisch erleichtern.
Doch die Debatte wird schärfer. Die „dunkle Seite“ von Ozempic & Co sollte angesichts der massenhaften Anwendung ernster genommen werden, warnen Mediziner, angesichts auch schwerwiegender Problemen wie Magenlähmung, Entzündung der Bauchspeicheldrüse (Pankreatitis) und Darmverschluss.
Abnehmdroge auf dem Totenschein: Zwei Wochen nach dem Pieks war Krankenschwester Susan McGowan tot. Bild: BBC
Das renommierte britische Medizinerfachblatt The Lancet sieht sogar in einem kürzlich veröffentlichten Editorial „Anlass zur Sorge“, verwies auf Nebenwirkungen – bis hin zu Todesfällen. So hatte die BBC über die Krankenschwester Susan McGowan, 58, aus North Lanarkshire berichtet (Foto: BBC), die etwa zwei Wochen vor ihrem Tod „zwei niedrig dosierte Injektionen“ mit einer der Abnehm-Drogen bekommen hatte.
„In ihrem Totenschein, der der BBC vorliegt, sind als unmittelbare Todesursachen multiples Organversagen, septischer Schock und Pankreatitis aufgeführt“ – aber auch „die Einnahme“ dieses ärztlich verschriebenen Medikaments „als beitragendem Faktor“.
Es handele sich, so die britische Medienanstalt, „vermutlich um den ersten Todesfall in Großbritannien, der offiziell mit der Droge in Verbindung gebracht wird.“
Im Lancet ist von 23 weiteren Todesfällen die Rede, bei denen die Abspeck-Mittel im Verdacht stehen. Natürlich gilt auch hier die Unschuldsvermutung.
Angesichts der schweren Nebenwirkungen aber, den hohen Preisen und der schwindenden Neigung, an den Ursachen anzusetzen, sei es an der Zeit, Kosten und Nutzen abzuwägen.
Schließlich soll ein Medikament, zumal wenn wir alle dafür bezahlen (müssen), nicht mehr Probleme schaffen, als es löst.