Sommer, Sonne, Eis - und mit jeder Kugel Meere retten, dank Aroma aus altem Plastik!
Eis lutschen und dabei die Ozeane retten, dank Vanillearoma aus Plastikmüll: Journalisten sind begeistert. Der Körper nicht so. Hans-Ulrich Grimm über die Höhepunkte des Geschmacksbetrugs – und seine gefährlichen Folgen.
Wenn die Kinder, im Zoo oder im Urlaub, ein Eis essen, dann ahnen sie natürlich nicht, woher der Geschmack stammt. Und ihre Eltern genauso wenig.
Und wenn sie dann erfahren würden, dass er aus alten Plastikflaschen gewonnen wird, dann fänden es sicher viele einfach eklig.
Vanillegeschmack aus Müll.
Andere wären vielleicht sogar ein bisschen stolz, weil sie damit die Weltmeere retten könnten, einfach so beim Eislutschen. Wenn sie Journalisten sind, beim Stern, zum Beispiel: „Das sind ja mal gute Nachrichten“, steht dort über der Meldung über die neuen Quellen für den Vanillegeschmack.
Auch andere Medien sind begeistert.
„Forschende schaffen Unglaubliches und gewinnen Vanillin aus Plastik“, staunte Bild der Frau: „Was heute alles möglich ist“!
„Vanille-Aroma aus alten Plastikflaschen“ - da jubelte auch der Spiegel: „Das Verfahren könnte einen Weg aus der Plastikmüll-Falle weisen“.
Es kommt natürlich immer auf die Perspektive an, und auf die Prioritäten. Und bei diesen Medien ist es klar, wo der Fokus liegt: Auf der Lösung von Müllproblemen und den Beschaffungsnöten der Food-Industrie.
Fragen wie Genuss oder gar Gesundheit stehen für sie nicht so im Vordergrund, wie sich zeigt bei dieser Erfindung aus dem sparsamen Schottland zur umweltfreundlichen und zugleich kostengünstigen Gewinnung von Geschmack.
Die „Forschenden“ von der Universität im schottischen Edinburgh hatten eine äußerst pfiffige Methode entwickelt, um das begehrte Vanille-Aroma zu gewinnen. Es ging ihnen ums „Upcycling“, also die zeitgleiche Ver- und Aufwertung von alten Plastikflaschen aus Polyethylenterephthalat (PET), „um die Kunststoffverschmutzung zu bekämpfen und den Weg zu einer Kreislaufwirtschaft einzuschlagen“, wie sie in der Zeitschrift Green Chemistry berichteten.
Meeresmüll zu Geschmacksersatz.
Die Missachtung des Geschmacks in den Medien und die Fälschung in den Fabriken – das hat natürlich verhängnisvolle Folgen. Denn Geschmacksfragen sind für den Körper existenziell wichtig. Der Geschmack ist das wichtigste Kriterium bei der Nahrungsauswahl. Über den Geschmackssinn steuert das Gehirn die Nahrungsauswahl und die Versorgung mit den aktuell benötigten Nährstoffen.
Geschmacksbetrug, etwa mit industriell hergestelltem Aroma, führt in die Irre und zu Fehlversorgung. Der Körper bekommt das Falsche und reagiert verstimmt, er wird dick und krank (Metabolisches Syndrom).
Während in der Welt des echten Essens der Geschmack abhängig ist von der Qualität der Rohstoffe, hat sich die moderne Industrie davon emanzipiert – und kann sich an praktisch beliebigen Rohstoffen bedienen.
Das verbilligt die Angelegenheit natürlich erheblich. So gibt es chemisch hergestelltes Vanillegeschmackspulver schon für einen Dollar pro Kilo – das echte Vorbild, gewonnen aus Vanilleschoten, kommt hingegen auf 11.000 Dollar pro Kilo. Es gibt davon allerdings nur knapp 20 Tonnen, insgesamt, weltweit. Die Konzerne brauchen aber 18.000 Tonnen.
Und so bedienen sie sich aus anderen Quellen. Geschmacksbeschaffung ist schließlich ein hartes Geschäft – und eines, in dem Phantasie gefragt ist. In der globalen Nahrungsindustrie sind die Maximen klar gesetzt. Es muss billig sein und in Massen verfügbar. Und da ist der Müll natürlich unschlagbar.
Es ist eine verhängnisvolle Prioritätensetzung, die sich da durchgesetzt hat, bei den Medien, und natürlich bei Big Food. Müllentsorgung vor Genuss. Das schottische Upgrading von alten PET-Flaschen ist da nur ein neuer, glanzvoller Höhepunkt.
Faszinierend, aber nicht unbedingt gesund. Denn Vanille hat natürlich, wie alle Elemente der traditionellen Nahrungskette, physiologische Funktionen im Körper. Und wenn der Geschmack nur vorgetäuscht wird, ohne den zugehörigen Nährwert, wird der Körper betrogen.
Das hat weitreichende Folgen. Übergewicht, zum Beispiel – und die damit einhergehenden Krankheiten, die im Corona-Zeitalter berühmt-berüchtigten „Vorerkrankungen“, die anfälliger machen für Ansteckung, schwere Verläufe, Intensivstationsbesuche und vorzeitiges Ableben.
Es geht also nicht nur um den Müll, seine Entsorgung und Verwandlung in Geschmack.
Es geht auch um das, was mit diesem Geschmack geschieht. Es geht also um das Eis, es geht um Süßigkeiten, es geht um Schokolade, und um das „wichtigste Aroma der Welt“, wie es die Firma Ritter Sport einmal genannt hat, die es auch einsetzt – auch wenn sie nach eigenem Bekunden gar nicht so genau weiß, woraus es genau gemacht wird.
Dabei kommt es gerade darauf an: auf die Quellen des Geschmacks. Denn schließlich geht es um den Genuss - und um die Gesundheit. Die ist natürlich abhängig von der Qualität der Nahrung.
Das Aroma aus dem Labor, aus dem Meer, aus Entsorgungsstätten aller Art ermöglicht überhaupt erst die „Pandemie des Ungesunden“, wie die Weltgesundheitsorganisation (WHO) die Flut krankmachender Industrienahrung nennt.
Das industrielle Aroma ist die Leitsubstanz der konzerngesteuerten Nahrungsproduktion, vor allem der „ultra-verarbeiteten Nahrungsmittel“, die das Risiko für die einschlägigen Krankheiten besonders erhöhen. Der industrielle Geschmacksersatz ermöglicht es erst, dass ungesunde und nährwertarme Produkte überhaupt verzehrt werden können. Ohne Geschmackstuning wären sie ungenießbar und mithin unverkäuflich.
Der echte Geschmack weist den Weg zu gesunder Nahrung, Obst zum Beispiel, etwa Erdbeeren. Erdbeeren schmecken gut, weil sie gut sind. Anders beim industriellen Aroma: Es täuscht Erdbeeren vor, wo keine sind, wo mithin auch kein Nährwert ist, keine Vitamine, keine Mineralstoffe. Der Geschmack stammt nicht aus wertvollem Obst, sondern, zum Beispiel, aus Sägespänen, wie ich in meinem Buch Die Suppe lügt berichtet habe.
Und es gibt nicht nur Sägespäne: Es gibt noch ganz andere, oft anrüchige und obskure Quellen. Besonders günstig natürlich: Abfall aller Art und Sorte, ein deshalb sehr beliebter Aroma-Rohstoff im Zeitalter der Abfallfreien Lebensmittelwirtschaft.
Kein Wunder, dass die Lieferanten des Ersatzgeschmacks ein bisschen geheimniskrämerisch sind, wenn es um die Herkunft ihrer Rohstoffe geht. Das hatte ich bei meinen Recherchen häufig beobachtet.
Auch in einem aufsehenerregenden Prozess vor dem Landgericht München, in dem es um die Geschmacksquellen für die Ritter Sport Schokolade ging.
Immer wieder wurde da, wie sonst vor allem in Prozessen um Missbrauch und Vergewaltigung, die Öffentlichkeit ausgeschlossen – stets dann, wenn es um Details des Produktionsprozesses ging.
Vor mir saß der Firmenchef der Schokoladenfabrik, sogar er musste, wenn das Publikum des Saales verwiesen wurde, immer mit aufstehen und rausgehen. Als ich ihn dabei fragte, halb verwundert, halb belustigt, ob nicht einmal der Chef wissen dürfe, was in seiner Schokolade steckt, reagierte er etwas unwirsch.
Tatsächlich betrachten die Geschmackslieferanten ihre Quellen als Geschäftsgeheimnis. Auch bei Ritter Sport. Deshalb muss der Chef bei diesem Thema leider draußen bleiben, genau wie seine Kunden im Publikum.
Die Geheimniskrämerei der industriellen Geschmackslieferanten ist verständlich. Denn wenn die Quellen ihrer Rohstoffe bekannt werden würden, wäre das womöglich geschäftsschädigend. Es könnte den Leuten der Appetit vergehen.
Der Geschmack ist ein ganz sensibles Gebiet, schließlich ist der Geschmackssinn die wichtigste Kontrollinstanz des Körpers, wenn es um Lebensmittel geht. Er schlägt Alarm, wenn etwas verdorben oder vergiftet sein könnte, löst einen Abwehrreflex aus, wenn etwas auch nur unappetitlich wirkt.
Und sogar bei Medien wirkt er noch, jedenfalls bei manchen, wie etwa dem US-Magazin National Geographic.
„Pünktlich zur Weihnachtskeks-Saison“, berichtete es einmal, hatte es eine etwas unappetitliche Geschmacksquelle entdeckt: Da hätten seine Rechercheure „herausgefunden, dass das Vanille-Aroma in Ihren Backwaren und Süßigkeiten aus den analen Ausscheidungen von Bibern stammen könnte.“
Es sind offenbar spezielle Drüsen am Hinterteil, mit denen die kleinen sympathischen Beißerchen ihr Revier markieren.
Kenntnis- und detailreich beschrieb der National Geographic-Artikel, wie der Stoff gewonnen wirkt, laut Auskunft einer eigens befragten Expertin. "Sie können die Analdrüsen melken, so dass Sie die Flüssigkeit extrahieren können", sagte Joanne Crawford dem Blatt, eine Ökologin für Wildtiere an der Southern Illinois University.
Sie sagte auch, wie der „braune Schleim“ auf sie wirkt („ziemlich eklig"). Selbstverständlich sei der Rohstoff für die Vanilleproduktion von der zuständigen Behörde, der U.S. Food and Drug Administration (FDA) als „sicher“ eingestuft worden. Der sogenannte Castoreum-Extrakt werde im übrigen „seit mindestens 80 Jahren in der Parfümerie und als Geschmackszutat in Lebensmitteln eingesetzt“, wie die Zeitschrift International Journal of Toxicology schon im Jahr 2007 berichtete hatte.
Noch viel länger sind sie schon auf der Suche nach billigen Alternativen für den echten Geschmack.
Manchmal streifen sie durch die Wälder der Umgebung und melken nicht nur Biber, sondern fällen auch selbst Bäume, und mit ein bisschen Phantasie und chemischem Geschick landen sie so einen Welterfolg, wie ein gewisser Wilhelm Haarmann, der aus dem Forst in der Umgebung eines niedersächsischen Ortes namens Holzminden den Rohstoff für den ersten chemisch erzeugten Geschmack gewonnen hatte: Holz.
Das war schon im Jahre 1874. Damit hatte er auch die Grundlage geschaffen für die globale Geschmacks-Industrie. Und dem Rohstoff Holz blieben sie treu: Es war auch ein Geschmacks-Zauberer aus diesem Ort, der mir einmal stolz erzählt hatte, das sie Erdbeeraroma auch aus Holz gewinnen, genauer: aus australischen Sägespänen.
Nach und nach haben die Aromakonzerne noch ganz andere Quellen aufgetan. Zum Beispiel die Kanäle von Papierfabriken.
Tatsächlich wird der Vanillegeschmack, wie eine österreichische Regierungsstudie in Erfahrung gebracht hatte, auch aus »Papierpulpe und Abwässern der Papierindustrie« gewonnen. Und zwar schon seit den 1930er Jahren. In den 1980er Jahren stammten zeitweilig 60 Prozent der weltweiten Vanillinproduktion aus einer einzigen Quelle, den Abwässern einer Papierfabrik in der kanadischen Stadt Thorold, der Ontario Pulp and Paper (OPP).
Genutzt wird dabei ein Abfallstoff der Papierherstellung, das sogenannte Lignin, beim Ausschlachten sind Bakterien behilflich wie etwa der Aneurinibacillus aneurinilyticus.
Bei meinen Recherchen im Aroma-Milieu bin ich darauf gestoßen, dass sich auch der Ritter-Sport-Geschmackslieferant mit solchen Bakterien und ihren Begabungen für die Geschmacksproduktion sehr gut auskennt.
Der Konzern aus dem niedersächsischen Holzminden, hervorgegangen aus der Ur-Firma des Vanillin-Erfinders Haarmann, hat sich ein Verfahren patentieren lassen, bei dem Bakterien vom Typ Pseudomonas bei der Produktion von Vanillegeschmack mitwirken (Patent EP0583687B1).
Diese Pseudomonas-Bakterien hatte einmal jemand in einer Bodenprobe aus Indonesien entdeckt. Also: völlig natürlich alles. Die Mitglieder dieser Familie sind in der Natur sogar allgegenwärtig, sie gelten als „Pfützenkeim“, sind aber nicht nur im Wasser, auch in der Erde anzutreffen. Absolut natürlich sind mithin auch deren Ausscheidungsprodukte, die zur Vanillegeschmacksherstellung dienen.
„Natürlich“ ist auch mein geliebtes Erdbeeraroma aus Sägespänen: Dafür hatte schon die zuständige Einrichtung der Vereinten Nationen gesorgt, der Codex Alimentarius, gewissermaßen die Weltregierung in Sachen Lebensmittel. Unter tatkräftiger Mithilfe der Aroma-Lobby, wie diese stolz verkündete.
Im Übrigen gibt es auch gar keine „künstlichen“ Aromen mehr. Dafür hat die Europäische Union (EU) gesorgt, und damit weit verbreiteten Verbraucherwünschen Rechnung getragen.
Die EU hat einfach die Vokabel „künstlich“ aus dem Aromenrecht getilgt. Aber selbstverständlich nicht die chemischen Substanzen, die früher diese ehrabschneiderische Bezeichnung tragen mussten. Sie sind weiter erlaubt, sie heißen nur nicht mehr so. Was früher ein „künstliches Aroma“ war, darf sich heute stolz »Vanille Aroma« nennen. Zum Beispiel.
Im Zuge der Begriffsbereinigung wurden auch die Sägespäne nobilitiert - und zu Lebensmitteln befördert.
Denn die EU, wie stets auf Seiten der Verbraucher, hat im Zuge der Neufassung ihrer Geschmacksgesetzgebung verfügt, dass nur noch Lebensmittel für derartige Aromen genutzt werden dürfen – und zugleich erlaubt, dass die bisher genutzten Rohstoffe fortan "für die Zwecke dieser Verordnung als Lebensmittel“ gelten. Auch wenn bislang „nicht als solche verwendet wurden“. Wie zum Beispiel die Sägespäne.
Also: Alles völlig legal beim Geschäft mit der Geschmacksfälschung. Auch wenn Verbrauchertäuschung eigentlich immer noch verboten ist. Offiziell jedenfalls, nach Paragraph 11 des Lebensmittel- und Futtermittelgesetzbuchs (LFGB).
Nur der Körper empfindet es als Betrug. Er bekommt schließlich nicht das, was er zu schmecken glaubt – und muss daher mehr essen. Die Folge: Er wird dicker und dicker, wie sogar die Aromalobby einmal eingeräumt hatte (Die Suppe lügt).
Das zeigen auch diverse neue Untersuchungen zur „ultra-verarbeiteten“ Nahrung, also Fastfood, Fertiggerichte, Softdrinks, Tiefkühlpizza. Da gehört die industrielle Aromatisierung meist zur Grundausstatttung ab Werk.
Die Menschen, die so etwas bevorzugt verzehren, erhöhen ihr Gewicht, ihren Bauchumfang, ihr Risiko für Diabetes (Metabolisches Syndrom), so zeigten diverse Studien, etwa im British Journal of Nutrition Anfang 2021. Und wenn werdende Mütter sich davon ernähren, kommen ihre Kinder schon dicker auf die Welt.
Durch Übergewicht steigt auch das Risiko für Covid-19 – und die Gefahr für schwere Verläufe, wie die Weltgesundheitsorganisation (WHO) beobachtet hat. Sie warnt deshalb auch vor der „Pandemie ungesunder Nahrung“.
Insgesamt also könnte es gute Gründe geben, bei aller Liebe zur Müllbeseitigung, die Geschmacksindustrie und ihre zweifelhaften Quellen eher kritisch zu sehen: Gerade in dieser Zeit, da die globale Gesundheit mindestens so drängend erscheint wie die Vermüllung der Ozeane.
Die Menschen vom fernen Stern haben das vor lauter Begeisterung fürs Plastikmüll-Upgrading glatt übersehen.
Aber glücklicherweise hat das Blatt noch Leserinnen, und eine von ihnen musste dann doch erstaunt nachfragen, wie die Meldung vom Vanillegeschmack aus alten PET-Flaschen in die Rubrik mit dem Positiven geraten war: “Warum soll das eine gute Nachricht sein?“
Eine absolut berechtigte Frage.
Die Rettung der Weltmeere: ein ehrenwertes Anliegen – aber nicht, wenn sie auf Kosten der Gesundheit von Millionen Menschen geht, indem der globalen Geschmacksfälschung Vorschub geleistet wird.
Eigentlich muss Geschmacksfälschung behandelt werden wie Geldfälschung. Denn es wird ein Wert vorgetäuscht, den es nicht gibt.
Also: Wer Geschmack nachmacht oder verfälscht oder nachgemachten oder verfälschten in Verkehr bringt, gehört nicht bejubelt, sondern bestraft. Denn er (oder sie) gefährdet die Gesundheit.
Es ist Zeit für eine neue Bewegung: Rettet den Geschmack!
Manche fordern sogar schon eine „Gourmet-Diät“, um den Bedürfnissen des Körpers und des Planeten gleichermaßen Geltung zu verschaffen. Der Geschmack ist dafür die wichtigste Kategorie. Und wenn er gefälscht wird, müssen sofort die Alarmsirenen aufheulen.
Wenn irgendwo „Aroma“ draufsteht, ist auf jeden Fall was faul!