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Abfallfreie Lebensmittelwirtschaft

Geld stinkt bekanntlich nicht. Und so ist die Abfallfreie Lebensmittelwirtschaft für die Food-Branche ein Thema von großem ökonomischen Reiz. Dabei sollen Reste der Nahrungsproduktion zu wertvollem Rohstoff aufgewertet werden, sodass statt Entsorgungsgebühren Gewinne anfallen. Besonders erfolgreich und weitverbreitet ist die Verwandlung des Abfalls in Tierfutter (Heimtiernahrung), aber auch in spezielle Gesundheitszusätze wie etwa Vitamin E. Gewöhnungsbedürftig ist auch die Tatsache, dass vor allem der Geschmack von industriellen Nahrungsprodukten gern aus Abfällen gewonnen wird (Aroma, Geschmacksfälschung). Staatliche Stellen in Amerika und Europa unterstützen Recyclingprojekte, Wissenschaftler erforschen Wiederaufbereitungsmöglichkeiten.

 

Für die Verbraucher bleibt ein unappetitlicher Beigeschmack, auch gesundheitlich kann solches Upgrading fragwürdig sein. Moralisch zweifelhaft ist die Umwandlung aus Resten der sogenannten Tierproduktion, etwa Geflügel, in Kraftstoffe (Hühnerdiesel).

 

Auch in der traditionellen Lebensmittelherstellung in Küche oder Gaststätte werden Abfälle in unterschiedlicher Weise wiederverwertet. Den Knochen bekam der Hund, die übrigen Speisereste das Schwein, was übrigblieb, kam auf den Kompost und bildete Dünger für künftige Nahrung. Kreislaufwirtschaft in dieser Form ist ressour- censchonend und ökologisch sinnvoll.

 

Die industrielle Form der Kreislaufwirtschaft zieht größere Kreise und entfernt sich dabei auch eher von den traditionellen Abläufen. Die »Reststoffverwertung“ ist, so eine österreichische Regierungsstudie, ein Feld von wachsender Bedeutung. Auf diese Weise werde die Nahrung nicht nur billiger, sondern auch »grüner«: So bringe der „Reststoffeinsatz zur Aromenbereitung“ neben der „Lösung der Rohstoffbeschaffungsprobleme und einer deutlichen Kostenreduktion“ auch mehr Bewegung in Richtung ›grünere‹ (nachhaltigere) Industrie“ – und das „bei gleichzeitigem Erhalt des Prädikats ›natürlich‹«.

 

Die Steuerzahler beteiligen sich auch an dem großen Projekt, über die Professoren an den staatlichen Hochschulen und Forschungseinrichtungen. Der Hannoveraner Professor Dr. Dr. Ralf Günter Berger ist einer der Pioniere, er forschte zusammen mit Kollegen von der Universität Gießen und dem Deutschen Verband der Aromenindustrie (DVAI) über »Biotechnologische Erzeugung von hochwertigen Aromastoffen aus Nebenströmen der Lebensmittelindustrie«.

 

In seinem Standardwerk über Aromen und Düfte (Flavours and Fragrances) geht es unter anderem um die »Isolierung von Aromamaterialien aus Abfallströmen«, die »in der Aromaindustrie zunehmendes Interesse« finde. Denn: »Bisher wurden die Abfallströme vor allem als Entsorgungsproblem« gesehen, »aber die anhaltende Nachfrage nach natürlichen Aromastoffen und die Bereitschaft, einen Aufschlag für ein natürliches Aroma zu zahlen, veranlasst die Industrie zur Nutzung dieser Abfallströme, wenn immer es möglich ist.«

 

Die Nutzung der Abfallströme lohnt sich vor allem beim »wichtigsten Aroma der Welt«, wie Branchenvertreter das nennen: der Geschmack von Vanille. Behilflich sind dabei Bakterien. Der weltgrößte Aromenkonzern Givaudan aus der Schweiz hält ein Patent zur Vanilleproduktion mithilfe von Bakterien, etwa vom Typ Streptomyces.

 

Sehr beliebt sind die Bakterien aus der Gattung Pseudomonas, auch Pseudomonaden genannt. Die Pseudomonas-Bakterien, deren Ausscheidungsprozess zur Vanilleproduktion sich der Holzmindener Aromakonzern Symrise patentieren ließ, hatte jemand in einer Bodenprobe aus Indonesien entdeckt; sie wurden auf den Namen Pseudomonas sp. nov. getauft und unter den Nummern DSM 7062 sowie DSM 7063 bei der Deutschen Sammlung für Mikroorganismen und Zellkulturen GmbH in Braunschweig registriert.

 

Mit solchen Bakterien können auch »Reststoffe« wie Getreidekleie und Zuckerrübenmelasse zu einem »natürlichen« Produkt »upgegradet« werden, so die österreichische Regierungsstudie. Besonders zur Abfallverwertung eignet sich Bacillus megaterium. Der heißt so, weil er relativ groß ist für ein Kleinstlebewesen. »Von größter Bedeutung bei der industriellen Produktion mittels B. megaterium«, schreibt Diplom-Chemiker Jan-Henning Martens aus Soltau in seiner Doktorarbeit zum Thema, sei »der günstige Umstand, dass diese Spezies in der Lage ist, aus Abfällen und minderwertigen Stoffen Produkte hohen Wertes und höchster Qualität herzustellen«. Denn gerade im Müll ist Megaterium heimisch, er wurde schon in »Abfällen aus der Fleischindustrie und sogar in petrochemischen Abfällen gefunden«.

  

Käsegeschmack kann zum Beispiel aus Molkereiabwässern gewonnen werden. Aroma kann auch aus Abfällen hergestellt werden, die bei der Verarbeitung von Flusskrebsen (Procambarus clarkii) anfallen. Oder aus Abwasser bei der Shrimpsverarbeitung. Auch aus Abfällen von Meereskrebsen (Ovalipes punctatus), wie eine Arbeitsgruppe aus China herausfand.

 

Andere Länder, andere Müllkippen: So kann aus den jeweiligen landestypischen Restmengen noch jede Menge Geschmack herausgelöst werden, weiß die österreichische Regierungsstudie: »Während in Europa vor allem Getreidekleie mit einem Anfall von unzähligen Tonnen jährlich der Ausgangsstoff der Wahl für Vanillin sein könnte, gibt es in China den Ansatz, hierfür ebenfalls stark ferulasäurehaltige, jährlich zu rund zehn Millionen Tonnen anfallende Abfälle der Reiskleieölraffination einzusetzen.« Die Chinesen haben dafür auch schon ein Patent. Zum Einsatz kommt dabei etwa der bewährte Schimmelpilz Aspergillus niger, der auch bei der Herstellung von Zitronensäure (E330) mitwirkt.

 

Der deutsche Chemiekonzern BASF kann aus Abfall sogar gleichzeitig Vitamin E und angebliche Herzschutz-Zusätze herstellen, die sogenannten Phytosterine. Als Ausgangsprodukt nehmen sie laut Patentschrift Abfallprodukte, die bei der Herstellung von raffinierten Ölen anfallen, sogenannte »Dämpferdestillate«, von Rapsöl, Sonnenblumenöl oder Sojaöl.

 

Anfangs standen Behörden und Regierungen diesen modernen Formen der Resteverwertung noch skeptisch gegenüber. So wurde ein Patentantrag zur »Verwertung von Nährwertabfallstoffen« noch im Jahre 1988 abgelehnt. Schlachtabfälle, Blut, Federn und Borsten sollten dabei nach dem Willen des Erfinders als Grundstoffe für die Gewinnung von Proteinen und Fett dienen. Die Animositäten wurden indessen bald überwunden.

 

Mittlerweile sind große Konzerne bei der Aufwertung des Abfalls tätig. Als Klassiker gilt ein vor allem in angloamerikanischen Regionen beliebtes Produkt namens Marmite, ein Brotaufstrich aus Hefeextrakt. Heute gehört die Marke zum Unilever-Konzern. Erfunden worden war die vegetarische Würze im Jahr 1902 in Großbritannien. Hauptproduzent ist die Marmite Food Company in Burton upon Trent, 215 Kilometer nordwestlich von London, von einer Familie namens Gilmour gegründet. Als Rohstoff dienten »Nebenprodukte« der nahen Bass-Brauerei, im Klartext also: Abfälle.

 

Eine besondere Rolle bei der Wiederaufbereitung spielen die sogenannten Enzyme, mit denen auch kleine Reste wieder zu größeren Einheiten zusammengefügt werden können. Der dänischen Firma Novozymes gelang es beispielsweise, aus Schlachtabfällen, Schweinehäuten und ähnlichen Restmaterialien neu geformten Schinken zu gewinnen, dank eines Enzyms namens Protamex.

 

Ein ähnliches Erzeugnis verkauft der weltgrößte Hersteller des Geschmacksverstärkers Glutamat, Ajinomoto aus Japan. Sein Kleber heißt Activa Transglutaminase, ein Enzym, das »neue innovative Produktvarianten« (Prospekt) ermöglicht, darunter ein »zusammengesetztes Steak« aus losen Fleischteilen.

 

Abfallbeseitigung ist traditionell eine öffentliche Aufgabe, und offenbar sehen sich die staatlichen Stellen daher auch in der Pflicht, bei der Verwandlung von Müll in Nahrung behilflich zu sein. Das US-Agrarministerium etwa hat Gesundes aus Müll entwickelt: einen Fettersatzstoff namens »Z-Trim« – hergestellt aus Abfallprodukten der Landwirtschaft wie Hülsen von Hafer, Reis, Sojabohnen und Erbsen.

 

»Abfallfreie Lebensmittelwirtschaft« hieß ein Projekt, in dem der Lebensmitteltechnologe Benno Kunz an der Universität Bonn nach Möglichkeiten der Verwertung von Pressrückständen aus der Produktion von Karotten- und anderen Gemüsesäften forschte. Bei diesem Müllverwertungsprojekt waren auch die Europäische Union und das deutsche Bundesforschungsministerium beteiligt. Über 100 000 Tonnen dieser Reste wandern allein in Deutschland jährlich auf den Müll. »Zu schade zum Wegwerfen«, fand Recycling-Experte Kunz. Der Biomüll könnte beispielsweise getrocknet, gemahlen, ein bisschen aufbereitet und handelsüblichen Fruchtsäften, und Backwaren beigemengt werden.

 

Auch Molke ist ein Abfallprodukt der Landwirtschaft, es entsteht bei der Käseherstellung. Das grünliche Abwasser wurde früher weggeschüttet oder an die Schweine verfüttert. Heute wird es gewinnbringend verwertet, etwa in den beliebten Molke-Drinks, oder dem bei Fitnessfreaks beliebten Molkeneiweiß (Whey Protein).

 

Für Menschen ist es womöglich nicht unbedingt gesund: Studien deuten darauf hin, dass ein Eiweißbestandteil der Molke an der Entstehung der Zuckerkrankheit Diabetes beteiligt sein könnte. Molkeneiweiß findet gleichwohl auch als Zusatz in Kindernahrung, Frischkäse und Fertigsuppen Verwendung. Oder als Ersatzeiweiß in japanischen Gelee-Fischstäbchen.

 

Das hatte einer der einflussreichsten deutschen Lebensmitteltechnologen höchstpersönlich erfunden: Ernst Reimerdes, bis zu seiner Pensionierung Lebensmittel-Forscher bei Nestlé in der Schweiz. Er versteht sich auch als »Food-Designer«. Und ein »Grundprinzip des Food-Designs«, sagte Reimerdes, »besteht darin, die Entsorgung zu gewährleisten und daraus hochwertige Nahrungsbausteine zu gewinnen.«