Die neuartigen Krankheitserreger aus der Familie der Kolibakterien wurden erstmals 1982 in Hamburgern von McDonald’s gefunden. Es handelt sich um besonders aggressive Abkömmlinge von harmlosen Darmbakterien. Das berühmteste Bakterium aus der neuen Erregergruppe heißt E.coli 0157:H7, es ist für zahlreiche Krankheitsausbrüche und auch Todesfälle in aller Welt verantwortlich. Die Mikroben werden zusammengefasst unter dem Kürzel EHEC (»Enterohämorrhagische Escherichia coli«, Kolibakterien, die Darmblutungen hervorrufen). Eine besonders aggressive Variante ist in Deutschland ausgerechnet in einer vegan arbeitenden Gärtnerei aufgetaucht und sorgte 2011 für bundesweite Aufregung.
Eigentlich ist das E.coli-Bakterium vollkommen harmlos. Es wurde 1885 von dem deutschen Kinderarzt Theodor Escherich entdeckt und nach ihm benannt: Escherichia coli. Jeder trägt es in sich, es hilft dem Magen-Darm-Trakt bei der Verdauung. Die neuen Varianten haben allerdings mit ihren harmlosen Verwandten fast nur noch den Stammbaum gemein, denn einige E.coli-Bakterien haben sich von einem friedfertigen Begleiter des Menschen in einen gefährlichen Feind verwandelt.
Irgendwann in neuerer Zeit hat sich – auf ungeklärte Weise – eine E.coli-Bakterie der harmlosen Sorte ein Gen vom Erreger der Bakterienruhr aufgeschnappt und sich dann kräftig vermehrt.
Die neuen, gefährlichen Vertreter der Kolibakterien-Familie heften sich an die Darmwand an und sondern dort große Mengen eines aggressiven Giftes ab, das sogenannte Shiga-Toxin, das zu den gefährlichsten giftigen Mikrobensubstanzen zählt, die überhaupt bekannt sind. Es zerstört Darm- und Nervenzellen sowie die Innenwände der Blutgefäße, vor allem in der Niere. Die Menschen reagieren unterschiedlich auf den Angriff der Bazillen: Einige werden selbst mit den Angreifern fertig, spüren gar nichts oder werden nach einigen Tagen Durchfall von selbst wieder gesund. Bei manchen sind blutende Entzündungen des Dickdarms, Fieber und Erbrechen die Folge. Immer wieder sterben auch Menschen, vor allem Kinder.
Der Erreger wird nicht nur über Hackfleisch und Hamburger übertragen, sondern auch über Orangensaft, Apfelsaft, Milch, Gemüse, sogar Trinkwasser.
Im Sommer 2009 rief der weltgrößte Nahrungshersteller Nestlé in den USA gekühlten Keksteig seiner Marke »Toll House« zurück, weil Kunden nach Verzehr des Produkts mit schwersten Magen-Darm-Problemen ins Krankenhaus mussten; den Gesundheitsbehörden wurden 66 Fälle in 28 US-Bundesstaaten gemeldet.
Nestlé warnte: »Kunden, die den Keksteig gekauft haben, sollten ihn nicht essen. Stattdessen raten wir den Verbrauchern dringend, die Produkte zu ihrem örtlichen Händler zurückzubringen.« Die US-Lebensmittelbehörde FDA (Food and Drug Administration) fand die Ursache heraus: Bakterien vom Typ E.coli 0157:H7. In der Nestlé-Fabrik wurden keine Erreger gefunden, was den Verdacht daraufhin auf die Zutaten lenkte.
Auch Hackfleisch von Lidl war schon betroffen, in verschiedenen europäischen Ländern.
Bei den EHEC-Ausbrüchen ist die genaue Ursache aufgrund der auch für die Hersteller unübersichtlichen Lieferketten in der Nahrungsproduktion häufig nicht festzustellen. Eigentlich stammt der Keim aus den Rindermägen, doch er kann mittlerweile an vielen Stellen lauern. In Deutschland wurde schon Petersilie in einer Kräuterbutter als EHEC-Quelle identifiziert, auch Teewurst und Mortadella. In Japan bei der weltgrößten EHEC-Epidemie waren Rettichsprossen der Überträger. In den USA war es bei einem Ausbruch in mehreren amerikanischen Bundestaaten Spinat.
Besonders bedenklich ist für Seuchenexperten, dass der Erreger mancherorts schon das Trinkwasser erreicht hat. Bis jetzt sind allerdings nur wenige Quellen betroffen.
Als Ursache für die Ausbreitung von E.coli 0157:H7 und seiner gefährlichen Verwandten bei den Rindern gilt die Massentierhaltung, insbesondere die nicht artgerechte Fütterung. Moderne Hochleistungsrinder, die Fleisch ansetzen oder viel Milch geben müssen, werden mit ausgeklügelten Getreide-Kraftfutter-Mischungen versorgt. Und just diese begünstigen die Verbreitung von E.coli 0157:H7.
Das fanden amerikanische Wissenschaftler von der Cornell-Universität in Ithaca zusammen mit Experten des Agrarministeriums aus Washington heraus. Der Grund, so die Forscher in ihrer Studie, die im Wissenschaftsmagazin Science veröffentlicht wurde: Das Getreide, mit dem die Tiere gefüttert würden, wird im Magen der Tiere nur unvollständig abgebaut und gelangt deshalb unverdaut in den Darm. Dort beginnt es zu gären, es bildet sich ein saures Milieu. Die Bakterien werden dadurch gewissermaßen abgehärtet, sie gewöhnen sich an saure Umgebung und überstehen später im menschlichen Magen auch die Attacken der menschlichen Magensäure.
Die widernatürliche Form der Fütterung mit Getreide statt Gras züchtet also förmlich jene resistenten Bazillen. Wenn die Tiere Getreide bekamen, fanden sich 250.000 E.coli-Zellen von der gefährlichen Sorte pro Gramm im Darminhalt. Bei den Tieren, die Heu oder Gras bekamen, waren es nur 20 000 Zellen. Und die lebten nicht lange: 99,99 Prozent von ihnen wurden durch die Magensäure beim Menschen abgetötet – und konnten keinen Schaden mehr anrichten.
Der Krankheitskeim, einmal in der Welt, ist äußerst langlebig, kann Monate in tierischen Exkrementen überleben und sogar mehr als acht Wochen auf trockenem, blankem Edelstahl, wie er beispielsweise in Großküchen oft verwendet wird. Selbst eisige Atmosphäre stört ihn nicht sehr: Er übersteht Tiefgefrieren und vermehrt sich selbst bei frostigen zehn Grad unter Null. Kälte kann sogar bewirken, dass er sich noch besser an seine Wirtszellen anklammert. Und: Er widersteht auch sauren Magensäften, gelangt unbeschadet in den Darm, wo er seine Tätigkeit aufnimmt, manchmal sorgt er nur für Durchfall, manchmal bringt er den Tod. Ende 1998 wurde in Deutschland eine Meldepflicht eingeführt.
Mittlerweile ist noch ein neuer, extrem aggressiver Verwandter aufgetaucht. Er sorgte in Deutschland im Jahr 2011 für Angst und Schrecken: E.coli 0104:H4. Im ganzen Land erkrankten Menschen, 3842 waren es schließlich insgesamt, 53 starben. Im Zentrum der Aufmerksamkeit stand ausgerechnet ein vegan arbeitender Bio-Betrieb. Wochenlang harrten TV-Teams am Rande des Wäldchens neben der Gärtnerei aus, in einem kleinen Dorf in der Lüneburger Heide.
Die genauen Hintergründe blieben ungeklärt: „Warum genau es in Deutschland zu einem der größten EHEC-Ausbrüche kommen konnte, ist bislang letztlich als ungeklärt zu betrachten,“ so die Deutsche Gesellschaft für Krankenhaushygiene (DGKH) in einer abschließenden Stellungnahme ein Jahr später. Als offizielle Ursache wurden Bockshornkleesamen aus Ägypten präsentiert, die die Gärtnerei zu Sprossen verarbeitet und in die ganze Republik versandt hatte – wobei allerdings zahlreiche Fragen offen blieben, unter anderem, wie der bislang weithin unbekannte Keim seine perfiden Eigenschaften erworben hatte.