Corona kostet - im Krankenhaus zum Beispiel. Und wer bezahlt?
Sollen Ungeimpfte mehr für ihre Versicherung zahlen? Klingt plausibel. Schließlich füllen sie derzeit vor allem die Krankenhausbetten. Besser wäre, sich an die wahren Verursacher zu halten. / Von Hans-Ulrich Grimm
In der New York Times hat gestern eine Versicherungsvertreterin gefordert, die Ungeimpften zur Kasse zu bitten: „Du willst keine Impfung? Dann mach‘ Dich auf höhere Krankenkassenbeiträge gefasst“.
Elisabeth Rosenthal, Chefredakteurin des Assekuranzmagazins Kaiser Health News, schlug in einem Gastbeitrag für die Times vor, auch mal ans Finanzielle zu denken: „Wie wäre es also mit einem wirtschaftlichen Argument? Hol Dir eine Covid-19-Impfung, um Deine Brieftasche zu schützen.“
Schließlich seien 97 Prozent der Krankenhauspatienten im letzten Monat ungeimpft gewesen. So hatte es jedenfalls das Weiße Haus gemeldet.
Tatsächlich ist es ja eine gute Idee, auch mal ans liebe Geld zu denken. Gerade, wenn es um teure Krankheiten wie Covid-19 geht. Aber es ist zu kurz gedacht, wenn es dabei nur ums Impfen gehen soll. Um das Verhalten zu ändern, besser noch: die Verhältnisse, die Covid fördern, müsste der finanzielle Hebel ganz woanders angesetzt werden – am besten bei den Ursachen.
Die Impfung reduziert allerhöchstens die Folgen – und das noch weit weniger, als von vielen gedacht.
Zwar liegen die Schutzquoten, wie schon die gewöhnlichen Fernsehzuschauer wissen, bekanntlich bei bis zu 95 Prozent. Aber nur, wenn es um die Zahlen bei den Kranken geht. Ganz anders sieht es aus, wenn die ganze Bevölkerung in den Blick genommen wird. Da liegt der Effekt nur bei einem kümmerlichen Prozent. In Zahlen: 1 Prozent. Das haben jüngst Wissenschaftler von der Weltklasse-Universität Oxford errechnet.
So bezieht sich die berühmte 95-Prozent-Wirksamkeit bei dem in Deutschland besonders beliebten Impfstoff von BioNTech/Pfizer nur auf die Kranken: In den einschlägigen Studien waren von 100 Leuten, die Symptome entwickeln, nur 5 Prozent geimpft. Die übrigen waren Piekslose. Wirksamkeit der Impfung also: 95 Prozent.
Doch reduziert wird hier, da es nur um Kranke geht, lediglich das „relative Risiko“.
Anders sieht es aus, wenn es um die gesamte Bevölkerung geht. Das „absolute Risiko“. Da ist die Verminderung sehr viel geringer. Darauf hat jetzt eine Wissenschaftlergruppe, angeführt von einem Oxford-Forscher, in der angesehenen britischen Medizinerzeitschrift The Lancet aufmerksam gemacht.
Zwar wurden in den Medien, so das Journal, das zu den führenden der Welt gehört, viel über die Wirksamkeitsstudien berichtet, es wurden auch "Auszüge dieser Ergebnisse in Pressemitteilungen und Medien weit verbreitet und diskutiert", allerdings "manchmal auf irreführende Weise.“
Die Medien lieben es eben möglichst simpel.
Das „vollständige Verständnis der Wirksamkeit von Impfstoffen“ indessen sei weit „weniger einfach, als es den Anschein hat.“ Denn: „Je nachdem, wie die Effektstärke ausgedrückt wird, kann sich ein ganz anderes Bild ergeben“.
Tatsächlich wird ja nur ein ganz kleiner Prozentsatz der Bevölkerung wirklich krank durch Corona. Weltweit sind bis jetzt insgesamt nach offiziellen Angaben 184 Millionen von knapp 8 Milliarden an Covid-19 erkrankt – also etwas über zwei Prozent. In Deutschland waren es 3,74 Millionen von 83 Millionen – also 4,5 Prozent.
Beim Blick auf die gesamte Bevölkerung und damit das „absolute Risiko“, sieht es mit der Effektstärke der Vakzine laut der Lancet-Wissenschaftler anders aus: Da liegt die „Wirksamkeit“, also die Verminderung des Risikos einer Erkrankung, nur bei durchschnittlich 0,9 Prozent, wiederum im Falle von BioNTech/Pfizer.
Das bedeutet zum Beispiel: Statt 4,5 Prozent der Bevölkerung werden nur 3,6 Prozent krank. Auch nicht schlecht, aber halt keine 95 Prozent weniger, wie die Medienmeldungen suggerieren.
Abhängig ist die Zahl der Erkrankten natürlich auch von der Situation in dem jeweiligen Land. Schließlich sei „die Übertragungsintensität von Land zu Land unterschiedlich“, abhängig von verschiedenen „Faktoren“.
Dazu gehören die jeweils aktiven Virusvarianten, der Zustand des Gesundheitssystems. Und natürlich auch der Gesundheitszustand der Bevölkerung.
Und um diesen ist es beispielsweise in Deutschland nicht gut bestellt. Schließlich zählen bis zu 40 Prozent der Bevölkerung nach Regierungsangaben zur „Risikogruppe“ (siehe DR. WATSON NEWS vom 4. Dezember 2020).
Fast die Hälfte der Bevölkerung: eine erschreckende Quote an „Vulnerablen“. Und das liegt an der erschreckend weiten Verbreitung der sogenannten „Vorerkrankungen“, die besonders empfänglich machen für Covid-19, wie mittlerweile diverse Untersuchungen nachgewiesen haben.
Im Fachjargon: die „nichtübertragbaren Krankheiten“ (Noncommunicable diseases, kurz NCD). Sie verursachen – auch ohne Corona – millionenfach Leid und Tod. Sie schwächen den Körper, beeinträchtigen seine Abwehr – und machen ihn so verletzlich, auch bei Infektionen durch Corona.
Zu diesen „nichtübertragbaren Krankheiten“ gehört beispielsweise Diabetes, die „Zuckerkrankheit“. Sieben Prozent der Erwachsenen leiden in Deutschland daran, fast fünf Millionen Menschen.
Oder Bluthochdruck: Jeder dritte Erwachsene soll daran leiden. 20 Millionen insgesamt. Auch so ein Risikofaktor für Covid-19.
Ebenso wie Übergewicht. Stolze zwei Drittel der Männer (67 Prozent) und die Hälfte der Frauen (53 Prozent) sind davon betroffen, nach Angaben des Robert Koch-Instituts (RKI).
Üblicherweise wird die Schuld hierzulande den Opfern selbst in die Schuhe geschoben: Falsche Ernährung.
In der Wissenschaft geht die Erklärung eher aufs Ganze: Das „Ernährungssystem“.
Auch darauf hatte das Medizinjournal Lancet, in einem früheren Artikel, aufmerksam gemacht: Die Bedeutung der „Ernährungssysteme“ für die „nichtübertragbaren Krankheiten“, die nicht nur die Ausbreitung von Corona begünstigen, sondern auch ihrerseits als weltweit häufigste Todesursache gelten und für mehr als 70 Prozent der Todesfälle verantwortlich seien.
Covid-19 schließlich habe da nur noch eine weitere Dimension der Bedrohung hinzugefügt, und so „unsere derzeitigen mangelhaften Ernährungssysteme“ offenbar werden lassen.
Im Zentrum der wissenschaftliche Debatte steht mittlerweile die besonders bedenkliche „ultra-verarbeitete Nahrung“: Fastfood, Softdrinks, Fertignahrung, Tiefkühlpizza beispielsweise.
Die Welternährungsorganisation FAO sieht darin einen Hauptgrund für die Ausbreitung der nichtübertragbaren Krankheiten. Auch die Weltgesundheitsorganisation WHO setzt sich deshalb für Maßnahmen ein, um gegen die Dominanz solcher ungesunden Nahrungsmittel vorzugehen.
Im Medizinerfachblatt British Medical Journal (BMJ) forderten WHO-Experten schon eine »radikale Transformation« des herrschenden Nahrungssystems, mit dem Ziel einer »gesunden Nahrungsumgebung«, in der entsprechende Lebensmittel allgemein verfügbar und billiger werden.
Die »Ernährungs-, Landwirtschafts- und Handelspolitik«, die einst entwickelt wurden, »um die Quantität und nicht die Qualität der Lebensmittel zu gewährleisten«, müsse die »Anreize umstellen« und eher die Qualität in den Vordergrund rücken.
Dazu gehören nach Ansicht der WHO-Autoren Maßnahmen unter anderem finanzielle Regulierungsmaßnahmen, wie Steuern und Subventionen.
Es geht darum, das Verursacherprinzip auch bei der Preisgestaltung wirksam werden zu lassen. Das bedeutet, die Krankheitskosten, die ungesunde Nahrung verursacht, nicht Unschuldigen aufzubürden, sondern den Verursachern.
Mittlerweile mehren sich in der Wissenschaft die Vorschläge, die gesunden Lebensmittel, Obst, Gemüse, bäuerliche Erzeugnisse billiger zu machen und ungesunde Industrienahrung, Junkfood, „ultra-verarbeitete Nahrungsmittel“ teurer. So könnte der Krankheitsdruck gesenkt werden, der aus dem ungesunden Ernährungssystem erwächst.
Detaillierte Vorschläge dazu hat die Forschergruppe erarbeitet, die das Konzept der „ultra-verarbeiteten Nahrung“ und das darauf basierende Klassifikationssystem entwickelt hat (siehe Hans-Ulrich Grimm: Food War).
Damit die Preise der ungesunden Nahrung auch ihren wahren Kosten entsprechen, müssten zunächst die Folgekosten der ungesunden Nahrungsmittel ermittelt werden, und dann umgelegt auf die jeweiligen Problemprodukte.
So müssten also zum Beispiel die Kosten für die Folgen des Zuckers einfach auf den Zucker und mithin auch die zuckerhaltigen Produkte umgelegt werden. Die Einnahmen daraus sollten wiederum dazu dienen, das Gesunde billiger zu machen: Äpfel und Birnen, Bananen und Papayas, Kartoffeln, Karotten, Zwiebeln, Zucchini.
Ziel: Die krankmachende Nahrung zu verteuern – und die gesunde billiger zu machen.
Und die Kosten für Corona müsste dann natürlich in die Kalkulation mit einfließen. Auch für die Impfungen. Denn schließlich sind es die Problemprodukte, die die „Vulnerabilität“ erhöhen und damit das Risiko, relativ und absolut.
Das Prinzip ist sinnvoll: Die Folgekosten der ungesunden Nahrung auf den Preis draufzuschlagen, zu „internalisieren“, damit sich jeder frei dafür entscheiden kann, an der Verbreitung milliardenschwerer Krankheiten mitzuwirken - und natürlich auch an deren Bekämpfung.
Das neue Motto: "Du willst eine Cola? Dann zück' Deine Brieftasche, um für die Folgen zu spenden!"