Dem Geschmack auf der Spur - und das seit Jahrzehnten: Autor Hans-Ulrich Grimm (links) bei der Recherche im Food-Milieu (mit branchenüblicher Kopfbedeckung).
Hans-Ulrich Grimm über echtes und falsches Erdbeeraroma, die mysteriösen Rezeptoren im ganzen Körper und die gefährlichen Folgen der Sinnestäuschung aus dem Supermarkt für unseren Organismus.
Dass ich einem Skandal auf der Spur war, das wusste ich schon früh. Das ganze Ausmaß allerdings zeigt sich erst jetzt.
Der Hühnergeschmack ohne Huhn, über den ich im Spiegel geschrieben hatte, dem damals noch berühmten und angesehenen Nachrichtenmagazin. Das Erdbeeraroma aus Sägespänen, über das ich in meinem Bestseller „Die Suppe lügt“ erstmals berichtete.
Ich war empört, aus rein feinschmeckerischer Sicht.
Doch der Betrug reicht viel weiter – und trifft den ganzen Menschen.
Ich fiel fast vom Stuhl, als ich jüngst in der New York Times las, dass wir Geschmackszellen nicht nur auf der Zunge haben, sondern im ganzen Körper. Das hat die medizinische Forschung in den letzten Jahren festgestellt, aber nicht so an die große Glocke gehängt. Vermutlich, weil damit kein Geld zu verdienen ist.
Rezeptoren im ganzen Körper: Das bedeutet, dass der Geschmack für uns offenbar eine ganz fundamentale Rolle spielt.
Er ist so etwas wie unser Navigationssystem, das uns mit adäquater Nahrung versorgen soll. Und wenn wir etwas anderes schlucken, als wir schmecken, wird unser ganzer Körper in die Irre geführt. Das Auto kippt ins Hafenbecken, wenn das Navi verrückt spielt. Und wir kommen ins Krankenhaus. Oder gar vorzeitig ins Grab.
Und mehr noch: Der Geschmack ist so etwas wie die geheime Sprache der Gesundheit. Das ist der Grund, weshalb uns der liebe Gott – oder Mutter Natur – überall Sensoren dafür eingebaut hat. Und wenn sie – mit industriellem Aroma – gezielt ausgetrickst werden, hat das logischerweise verheerende Folgen.
Das industrielle Aroma ist das „missing link“, das Verbindungsglied zwischen den milliardenteuren Massenkrankheiten, die jedes Jahr Millionen von Menschenleben fordern, und der sogenannten „westlichen Ernährung“, die als „Hauptfaktor“ dafür gilt. Insbesondere die „ultra-verarbeitete“ Nahrung, Cola, Tiefkühlpizza, Fertigessen, verantwortlich für unglaubliche 32 Krankheiten.
Aber warum eigentlich?
In Medizin und Medien herrscht großes Rätselraten: Was macht ausgerechnet das Ungesunde so unwiderstehlich? Und sie spekulieren wild drauflos: Über Kalorien, Kohlenhydrate und Fett, Zucker und Salz, mögliche Suchteffekte, die knappe Zeit heutzutage.
Nur das Wichtigste kommt nie vor. Das, was die normalen Leute immer nennen, wenn sie gefragt werden, worauf es ihnen beim Essen ankommt: Der Geschmack. Dass es „lecker“ ist.
Das Ungesunde ist natürlich nicht „lecker“. Es wird „lecker“ gemacht. Mit Hilfe von chemisch hergestelltem Aroma.
„It’s the taste, stupid!“
Es ist genau dieser Skandal, den ich vor 30 Jahren zum ersten Mal enthüllt habe. Eine groß angelegte Irreführung mit verheerenden Folgen: Die massenhafte Manipulation am Geschmack durch die industriellen Zusätze.
Zum Beispiel jenem Erdbeeraroma aus Sägespänen. Oder dem Vanille-Aroma aus Abfall.
Ohne so etwas geht bei den „ultra-verarbeiteten“ Produkten gar nichts. Ohne den Geschmacks-Ersatz aus dem Labor wäre das alles unverkäuflich. Sie sind nur deshalb „genießbar“, weil ihr Geschmack gefälscht ist. Erst das „Aroma“ macht „ultra-verarbeitete“ Produkte möglich. Es ist die Leitsubstanz des Ungesunden.
Dadurch wird das körpereigene Kontrollsystem ausgetrickst: der Geschmackssinn. Er signalisiert uns, was gut ist. Und schlägt Alarm, wenn etwas faul ist oder giftig. Normalerweise.
Doch jetzt wird unsere Alarmanlage ausgeschaltet. Gehackt, sozusagen. Unser Organismus wird fremdgesteuert. Die Hacker sitzen in den Zentralen der Konzerne. Und lenken uns ins Verderben. Und zwar praktisch jeden.
“Sie können uns gar nicht entgehen“ sagte der „Kommunikationschef“ des größten deutschen Aromakonzerns.
25mal am Tag kämen die Deutschen mit ihren Produkten „in Berührung“, verkündete er stolz im Fachblatt PR-Magazin. Zum Beispiel über die Aromastoffe im Joghurt.
„Praktisch alle“ Nahrungskonzerne nähmen die Geschmacksstoffe aus seinen Fabriken. Danone, Kraft, Unilever. Mit ihnen arbeiten sie „eng, aber verschwiegen“ zusammen.
Selbst für wohlwollende Medien gibt es nur gut gefilterte Informationen. Süddeutsche Zeitung, Frankfurter Allgemeine, Funk und Fernsehen.
Bei „notorischen Kritikern wie Hans Ulrich Grimm“ sei die Firma noch „verschlossener“. So stand das im PR-Magazin.
Ich hatte, natürlich im Scherz, bei meinem Besuch dort, im Jahre 1992, an die Welt der echten Lebensmittel erinnert, doch das fanden die Geschmacksfälscher natürlich nicht so lustig, jedenfalls laut PR-Magazin:
„Bei einem der ersten Recherchegespräche fragte Grimm offenbar, wo sich die Hühnerställe befänden“, und zwar „wohl wissend“, dass die Firma ihr „Hühneraroma damals synthetisch produzierte.“
Damit sei „die Sachlichkeit im Gespräch dahin“ gewesen.
Und als ich dann in meinem Buch „Die Suppe lügt“ auch noch schrieb, sie produzierten Erdbeeraroma aus Sägespänen, da „war das Tischtuch zerschnitten“.
„Das ist sachlich falsch“, sagte der „Kommunikationschef“.
So ganz falsch kann es in Wahrheit gar nicht sein. Schließlich ist seine Firma doch so stolz darauf, dass sie aus Holz Geschmack gewinnen kann. Sie hat das schließlich erfunden, mit Hilfe von „Lärchen, Fichten und Kiefern“ aus den Wäldern um ihren Firmensitz, einen Ort namens Holzminden.
Aus dem deutschen Forst exotischen Vanillegeschmack gewinnen: die erste Großtat der Geschmacksfälscher.
Früher, im Mittelalter zum Beispiel, wäre so etwas natürlich streng verboten gewesen,. Da wurden betrügerische Bäcker, beispielsweise, kopfüber in den nahen Fluss getaucht. Weinpanscher sogar mit dem Tode bestraft.
Doch mit zunehmender Industrialisierung wurde die Obrigkeit toleranter. Das Treiben der Betrüger wurde legalisiert, heute werden sie Betrüger sogar hofiert, dürfen bei der Gesetzgebung mitwirken.
Und ausgerechnet jene, die uns mit ihrem Geschmack aus den Wäldern hinter die Fichte führen, brüsten sich heute mit ihrer „Mission“.
Dabei haben sie ja schon ein Geständnis abgelegt. Vor langer Zeit. Da faxte der Lobbyverband der Aromenkonzerne an die Medien gern ein Informationsblatt mit der Überschrift »Sind Aromen gesundheitsschädlich?«
Das seien sie nicht, jedenfalls nicht so direkt, war da zu lesen. Und „dass Gesundheitsschäden, die auf dem Verzehr aromatisierter Lebensmittel beruhen, bislang nicht bekannt geworden sind, sieht man vom Übergewicht ab.“
Wumms. Das Schuldbekenntnis. Von den Betrügern direkt, dem Lobbyverband der Aromenindustrie, der eigentlich heißen müsste: Verband der diskreten Dickmacher. Das war 1996. Mittlerweile haben sie das Geständnis nicht mehr so laut wiederholt.
Schließlich sind sie damit mitverantwortlich für Millionen von Krankheits- und sogar Todesfällen, die laut Weltgesundheitsorganisation (WHO) alljährlich zu beklagen sind:
„Übergewicht und Adipositas zählen in der Europäischen Region zu den führenden Ursachen für Tod und Behinderung, wobei jüngste Schätzungen darauf hindeuten, dass sie jährlich für mehr als 1,2 Millionen Todesfälle verantwortlich sind.“
Wie das kommt mit dem Übergewicht, das hatte ich mir damals von einem Professor erklären lassen, für meinen Artikel im Spiegel.
Durch die industriellen Aromen werde der Körper regelrecht »betrogen«, sagte mir der Sinnesphysiologe von der Universität Regensburg.
Denn wenn ein Mensch Rindergeschmack auf der Zunge spürt, kündige das körpereigene Informationssystem die baldige Ankunft von Rindfleisch im Verdauungstrakt an. Daraufhin werden spezielle Magensäfte aktiviert. »Wenn dann kein Rind kommt«, erläuterte der Professor, »läuft der Apparat leer.«
Die Folge sei: »saumäßiger Kohldampf«.
Der künstlich ausgelöste Kohldampf ist heute ein Massenphänomen. Denn bei vielen Fertigprodukten und sogenannten „Fruchtjoghurts“ ersetzt das Aroma die Zutaten. Der Körper erwartet Nährstoffe, aus Rind, Huhn, Erdbeeren, kriegt sie aber nicht – und ist daher gezwungen, mehr zu essen.
Ich hatte mal Erdbeerjoghurt im Labor untersuchen lassen. Ergebnis: Das selbstgemachte hatte von den wichtigsten Nährstoffen sechs- bis achtmal so viel wie das industrielle, das seinen Geschmack nicht den Erdbeeren verdankt, sondern dem zugesetzten „Aroma“.
Das bedeutet: Um genauso viel Nährstoffe zu bekommen wie aus 100 Gramm selbstgemachtem Erdbeerjoghurt, muss ich 800 Gramm von „Landliebe“ oder vergleichbaren Industrieprodukten löffeln, dem „Großen Bauer“ Joghurt oder den „Fruchtzwergen“ von Danone.
Kein Wunder, dass die Leute, schon die Kinder, da irgendwann fett werden.
Der Geschmack hat eine Bedeutung. Früher hatte ich gedacht, es geht da nur um den Genuss, den Spaß am Essen. Geschmack gilt ja irgendwie als subjektiv, beliebig
Doch er ist weit mehr. Genau deshalb werden die Geschmacksrezeptoren auf der Zunge binnen drei Wochen komplett erneuert. Und sie finden sich, kaum zu glauben, aber wahr, nach neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen überall im Körper.
Im Darm, in Herz und Nieren, in der Lunge und Leber, sogar im Gehirn, außerdem in der Schilddrüse, der Bauchspeicheldrüse, den Fettzellen, den Muskeln, der Milz.
Warum, um Gottes Willen, haben wir Geschmacksrezeptoren in der Milz?
Und was, wenn sie betrogen werden, dort in der Milz, in Herz, Hirn und Nieren, und überall sonst?
Offenbar hat der Geschmacksbetrug durch die Aromakonzerne noch viel weitreichendere Auswirkungen als bisher gedacht. Er trifft den gesamten menschlichen Körper.
In der New York Times verglich Professor Paul Breslin vom Monell Chemical Senses Center in Philadelphia im US-Staat Pennsylvania, das System mit einem Flughafen, der sich auf die Landung eines Flugzeugs vorbereitet.
„Stellen Sie sich vor, ein Flugzeug würde in einem Flughafenterminal landen, das nicht bereit ist“, sagte er. Niemand wäre darauf vorbereitet, das Flugzeug zum Gate zu geleiten, es zu reinigen oder das Gepäck auszuladen.
Der Geschmack, sagte er, bereitet alles vor. Er weckt den Magen, regt die Speichelproduktion an und schickt ein wenig Insulin ins Blut, das wiederum Zucker in die Zellen transportiert. Er wirkt offenbar als Signal, das Befehlsketten aktiviert, Abläufe steuert, sogar in anderen Körperregionen. Erst wenn der Geschmack sein „Go!“ sendet, geht’s los. Mit der Verdauung, zum Beispiel.
Das zeigte Iwan Pawlow (1849 – 1936), ein russischer Physiologe, der übrigens auch in Deutschland studiert hatte und für seine Studien zur Verdauung 1904 den Nobelpreis bekam. So wurden Fleischstücke, die er direkt in ein Loch im Magen eines Hundes steckte, nicht verdaut, solange er nicht etwas Trockenfleischpulver auf die Zunge bekam.
Heute gehen Mediziner noch weiter. Die zahlreichen Rezeptoren im menschlichen Körper deuten darauf hin, dass der Geschmack neben nicht nur die Nahrungsverarbeitung steuert, sondern viel weitreichendere Aufgaben „für die Aufrechterhaltung normaler Lebensaktivitäten“ hat. Zum Beispiel „bei der Regulierung der Körpergesundheit“. Darauf haben kürzlich chinesische Forscher hingewiesen.
Denn der Geschmackssinn steuert neben der Nahrungsaufnahme auch das Immunsystem und mithin die Krankheitsabwehr.
Eine spektakuläre Entdeckung: Der Geschmack ist die geheime Sprache der Gesundheit.
Wer ihn fälscht, führt den ganzen Körper in die Irre, und oft sogar ins Verderben.
Beispiel Bitterstoffe. Sie gelten als Warnsignale – und werden durch zugesetzte Aromastoffe gezielt ausgeschaltet, „maskiert“, wie es in der Fachsprache der Geschmacksbetrüger heißt.
Es hat also existenzielle Bedeutung für uns, den Geschmack möglichst präzise und natürlich ungeschminkt wahrzunehmen.
Höchste Zeit also für die Rehabilitierung des Geschmackssinnes. In vielen naturnäheren Zivilisationen wird er offenbar regelrecht kultiviert. Sie pflegen sogar eine regelrechte „Gourmet-Ernährung“, nicht in einem elitären Sinne, sondern ganz ursprünglicher Wertschätzung der alltäglichen Wahrnehmung.
Wenn wir also wieder in die Spur kommen möchten, muss der Geschmacksbetrug gestoppt werden.
Hier auf die Politik zu hoffen, wird vergeblich sein. Die Herrschenden haben ja die Betrüger ausdrücklich eingeladen, am Tisch zu sitzen, wenn es um die globalen Vorschriften geht. Einer ihrer größten Erfolge: Dass das legendäre Erdbeeraroma aus Sägespänen als „natürlich“ gelten darf. Die Europäische Union hat sie dann sogar ausdrücklich zu Lebensmitteln ernannt.
Bleibt nur: Die Dinge wieder selbst in die Hand zu nehmen.
Wir haben unseren Informationsdienst DR. WATSON DER FOOD DETEKTIV entsprechend ausgebaut und zum Beispiel die DR. WATSON REZEPTE ins Angebot aufgenommen.
Zusätzlich gibt es jetzt unseren Kanal DR. WATSON ON SUBSTACK, sozusagen den praktischen Arm von DR. WATSON mit mehr und ausführlicheren Rezepten, Tipps, einem kurzweiligen und informativen Podcast mit Maike Ehrlichmann. Titel: Jetzt mal ehrlich!
Hier finden Sie auch das DR. WATSON Geschmacks-Manifest: Rettet unser Nahrungs-Navigationssystem!
Natürlich gibt es immer noch den „Klassiker der modernen Verbraucheraufklärung“, mein Buch übers Erdbeeraroma aus Sägespänen und andere moderne Geschmacksverirrungen:
Die schöne neue Welt des Essens