Bei unglaublichen 45 Krankheiten spielt der Zucker eine Rolle, als Verursacher, Förderer, Beschleuniger. Das kam bei einer Studie heraus, die jetzt in der renommierten Medizinerzeitschrift British Medical Journal (BMJ) erschienen ist. Besonders deutlich sei der Zusammenhang bei Herzleiden, bei manchen Krebsarten und der „Zuckerkrankheit“ Diabetes.
45 Krankheiten, durch ein einziges Nahrungsmittel? Das hat natürlich einen Grund: Der süße Stoff verursacht systemische Verwüstungen im ganzen Körper, wenn er im Übermaß verzehrt wird. Er ist ein besonders machtvoller Stoff.
Natürlich ist Zucker auch ein Genuss-Element – wird aber heute, massenhaft eingesetzt, zum Hochrisikoelement in der Nahrungskette und spielt bei allen modernen Massenleiden eine Rolle.
Selbst bei der Corona-Krise war er maßgeblich beteiligt, wegen seiner schädlichen Effekte im Körper, und auch weil er dick macht, was wiederum die Anfälligkeit erhöht auch für solche Infektionen.
Der Zucker. Ein Nahrungsmittel, das völlig legal und ohne Beschränkungen erhältlich ist. Ein süßes Gift, frei verkäuflich, ohne jegliche Warnhinweise. Wozu auch? Ernährung ist schließlich eine Privatangelegenheit, sagen die Medien.
Stimmt natürlich.
Andererseits: Wie privat ist das Essen, wenn es uns krank macht?
Und: Wozu brauchen wir eine Regierung, wenn sie uns nicht vor Bedrohungen schützt?
Schlechtes Essen kommt uns teuer zu stehen, und erst recht unsere Kinder.
Es führt nicht nur zu persönlichem Leiden, es macht uns auch ärmer, durch steigende Abzüge vom Gehalt für die Folgekosten der Krankheiten, es mindert den Wohlstand, schadet der Wirtschaft, der Welt im Ganzen.
Wer tut etwas dagegen?
Traditionell ist es Aufgabe der Regierung, die Bürger vor Nahrungsrisiken zu schützen. Schließlich gehört die Lebensmittelsicherheit zu ihren Kernaufgaben, und zwar seit Jahrhunderten.
Bisher ging es da um verdorbenes, vergiftetes Essen. Heute geht es um ein Nahrungssystem, das die Menschen weltweit gefährdet, durch die sogenannten Zivilisationskrankheiten, die für Milliarden von Todesfällen verantwortlich sind.
Höchste Zeit für ein Update, das auch die heute vorherrschenden Gefahren erfasst.
Durch Zucker etwa, der zumeist versteckt verzehrt wird, in Fastfood, Softdrinks, Fertignahrung, den ganzen ultra-verarbeiteten Nahrungsmitteln.
Jetzt hat die deutsche Regierung einen Vorstoß gewagt – und eine Welle der Empörung ausgelöst.
Dabei war es ein ganz bescheidenes Ansinnen: Kinder sollen geschützt werden vor Werbung für Ungesundes. Eigentlich kein großes Ding.
Verantwortlich waren aber unglücklicherweise die Grünen, jene Partei also, die sich zunehmend unbeliebt macht durch ihren Hang zu Besserwisserei, zu Verboten, die Partei der Doppelmoral und der Scheinheiligen mit ihren persönlichen Sonderrechten.
Es wirkt natürlich wie ein Witz, wenn ausgerechnet die Vorsitzende dieser Partei für gesündere Ernährung eintritt, die ihrerseits eine Neigung zu ungesundem Fastfood hat und stark mehrgewichtig ist, wie es in diskriminierungsfreiem Neusprech heißt.
Wasser predigen, Wein trinken, oder zeitgemäßer: Verzicht fordern, und sich selbst davon ausnehmen. Verbote für alle, nur für die Verbotsapostel nicht.
Verständlicherweise ist die Empörung groß angesichts dieser Scheinheiligkeit.
Essen sei schließlich Privatsache, und für die Erziehung seien die Eltern verantwortlich.
Das stimmt natürlich. Einerseits.
Andererseits merken Eltern sehr schnell, wie weit es mit ihrer Autonomie her ist, wenn die Oma zu Besuch kommt und den Kindern Süßes mitbringt, der Nachbar Brausestäbchen über den Zaun reicht, beim Kindergeburtstag das Give-Away-Tütchen voll ist mit sowas.
Und das Problembewusstsein generell nicht sehr hoch, etwa im Lehrkörper an der Grundschule, wovon Gummibärchen und Kaubonbons auf den Tischen beim Elternabend zeugen.
Süßes beim Elternabend: Wo liegt das Problem?
Wohin das alles führt, zeigt die Untersuchung, die vorige Woche im Medizinerblatt BMJ veröffentlicht wurde, gestützt auf die gesammelten Erkenntnisse aus 8.601 wissenschaftlichen Studien aus aller Welt.
Das Fazit der Auswertung: Ein „hoher Konsum von zugesetztem Zucker“ stehe mit „einem signifikant höheren Risiko für 45 negative gesundheitliche Folgen in Verbindung“, bis hin zu einem „frühen Tod“.
Es wurden „signifikante schädliche Zusammenhänge“ festgestellt zwischen dem Zuckerkonsum und sieben Krebsarten, zehn verschiedenen Leiden im Herz-Kreislauf-Bereich, 18 Arten von Gesundheitsschäden im Bereich Hormone und Stoffwechsel und zehn weiteren aus anderen medizinischen Bereichen wie Neuropsychiatrie, Zahnmedizin, Allergologie.
Macht zusammen: 45 Gesundheitsschäden durch die Überdosis Zucker.
Im Einzelnen gehören dazu beispielsweise, als sichtbares Zeichen an den Zähnen, Karies und sogenannte Erosionsschäden, bei denen nur noch braune Stummel bleiben.
Außerdem Allergien und Asthma, zudem das bei Kindern und mittlerweile auch Erwachsenen verbreitete Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätssyndrom (ADHS), ferner Bluthochdruck, Depressionen, Herzinfarkt und Schlaganfall.
Die Liste der Leiden umfasst weiterhin verschiedene Geschwüre, Tumore, Krebsarten, an Brust, Leber und Prostata, auch im Gehirn. Und schließlich die „Zuckerkrankheit“ Diabetes, die mittlerweile zur Volkskrankheit geworden ist.
Das kann und muss natürlich alles behandelt werden. Glücklicherweise haben wir dafür kompetente Ärzte und gut ausgestattete Krankenhäuser. Und glücklicherweise haben wir eine Solidargemeinschaft, die dafür bezahlt.
Die Solidargemeinschaft, das sind wir alle. Selbstverständlich kommen wir für alle Kosten auf, und das ist auch gut so.
Nur eben teuer.
Allein die „Zuckerkrankheit“ Diabetes kostet schlankweg 50 Milliarden Euro im Jahr, nach einer nicht mehr ganz taufrischen Rechnung. Mittlerweile wird es weit mehr sein.
Ernährung ist Privatsache?
Unsinn.
„Mein Mann ist fettleibig“, schrieb gerade eine Frau an die New York Times, fragte deren Experten für Ethik und Lebenshilfe, ob sie es ablehnen dürfe, ihrem Gatten seine „dickmachenden, zuckerhaltigen Leckereien ohne Nährwert“ zu kaufen. Sie will ihn ja nicht mutwillig krank machen.
Der Fall zeigt: Es geht nicht nur um ein einzelnes Individuum. Es sind immer auch andere betroffen. Gerade bei den Nahrungsrisiken. Als Partner, als Familie, aber auch als Beitragszahler, als Gesellschaft, ja: Weltgemeinschaft.
Deshalb hat sich seit jeher auch die Obrigkeit darum Nahrungsrisiken gekümmert, schon aus Eigeninteresse, um ihre Macht zu legitimieren. Schließlich ist Herrschaft dazu da, Dinge zu erledigen, die für uns als Individuen zu groß und zu bedrohlich sind, vor allem wenn es um die Gesundheit geht, um Leib und Leben.
Der Schutz der Bevölkerung vor Essen, das krank macht, gehört seit Jahrhunderten zu den vornehmsten Pflichten der Politik.
So wurden im europäischen Mittelalter betrügerische Bäcker in Käfigen öffentlich zur Schau gestellt oder in den nahen Fluss getaucht und Weinpanscher sogar zum Tode verurteilt. Es ging schließlich um Grundnahrungsmittel und die körperliche Unversehrtheit der Bevölkerung.
Doch je größer die Risiken wurden, je mehr Menschen betroffen sind, je komplexer die Tricks der Betrüger wurden, desto mehr zog sich die Politik zurück, beklagte etwa die britische Historikerin Bee Wilson („Swindled“). So hätten »viele Regierungen in den letzten zweihundert Jahren den Betrügern erlaubt, mit ungeheuren Verbrechen durchzukommen«.
Eine verhängnisvolle Entwicklung: Je weitreichender die Folgen der Betrügereien wurden und je perfekter die Methoden, desto geringer wurde die Gefahr, dafür zur Rechenschaft gezogen oder gar bestraft zu werden.
Beispiel Lebensmittelfälschung: Einst ein Fall für harte Bestrafung, heute, in der Ära der industriellen Aromen, allgegenwärtig – und völlig legal.
Dabei waren die Folgen noch nie so weitreichend wie heute. Erstmals in der Geschichte versorgt das herrschende Nahrungssystem den ganzen Globus – mit Produkten, die krank machen, bei chronischem Konsum.
Es trifft vor allem die Kinder. Nie zuvor wurde eine Generation so ungesund ernährt. Es beginnt bei vielen gleich im ersten Lebensjahr, mit dem Fläschchen, den Babygläschen, und weiter geht es mit Fastfood, Softdrinks, Süßzeug.
Für sie kommt es später mal ganz dicke. Und auf ihrem Konto wird es mau aussehen.
Schon jetzt kann sich ein Normalverdiener heute oft kein Häuschen mehr leisten, was nicht nur an der Inflation liegt und der ungerechten Vermögensverteilung, sondern auch an den Krankheitskosten, für die wir jeden Monat blechen müssen: fast 500 Euro. Im Durchschnitt. Pro Kopf. Macht für eine vierköpfige Familie also an die 2000 Euro, im Jahr dann 24.000 Euro, und in zehn Jahren 240.000. In vierzig Jahren fast eine Million Euro.
Wäre das weniger, ginge es mit dem Häuschen auch leichter.
Und es geht nicht nur um den individuellen Wohlstand. Die nahrungsbedingten Krankheiten haben natürlich weitere teure Effekte – jetzt und in Zukunft.
Frühverrentung, vorzeitiger Tod: Immerhin sterben weltweit 11 Milliarden Menschen an den Folgen von moderner Risikonahrung. Das ergab eine groß angelegte Studie, finanziert von der obersten globalen Instanz für Gesundheitsfragen, der Bill-und-Melinda-Gates-Stiftung.
Wenn immer mehr Menschen krankheitsbedingt ausfallen, früher in Rente müssen, vorzeitig sterben, dann hat das Folgen für die Wirtschaftsleistung, den gesellschaftlichen Wohlstand.
Und auch da spielt das süße Gift eine Rolle: Je höher der Zuckerverzehr, desto mehr schrumpft das Bruttosozialprodukt, wie der US-Finanzkonzern Morgan Stanley vorgerechnet hat.
Maßnahmen für eine gesündere und nachhaltigere Versorgung mit Lebensmitteln sind also überfällig.
Gefordert werden sie seit langem, nicht nur von Wissenschaftlern wie Carlos A. Monteiro, dem Pionier in Sachen Risiken und Nebenwirkungen von ultraverarbeiteten Nahrungsmitteln, auch von Experten der Weltgesundheitsorganisation (WHO).
Dazu gehören bessere Kennzeichnung und Aufklärung, strengere Lebensmittelgesetze, und finanzielle Strategien, zugunsten des Gesunden. Daran erinnern auch die Autoren der aktuellen BMJ-Studie zu den 45 Gesundheitsrisiken durch zu viel Zucker.
Viele Länder haben sich auch schon an die Umsetzung gemacht. Deutschland hinkt da eher hinterher. Der aktuelle Vorstoß in Sachen Werbebeschränkungen fürs Ungesunde kann dabei nur ein Anfang sein. Das Ziel ist ja eine gesündere Zukunft für alle, und dafür können sich auch alle einsetzen, aus ganz unterschiedlichen Motiven.
Es geht schließlich nicht um Verbote, sondern um Vorteile.
So riet auch der Ethiker von der New York Times der Gattin des Dicken zur „positiven Verstärkung“, ihn zu unterstützen auf seinem Weg und erfreuliche Entwicklungen zu würdigen, anstatt seine Ernährung zu überwachen und zu kritisieren.
Das könnte auch die Richtung weisen für die Politik.
Ein gesünderes Leben führt natürlich generell zu mehr Zufriedenheit, auch zu mehr Wohlstand für alle, einer besseren Zukunft für unsere Kinder.
Mehr Gerechtigkeit, beispielsweise, schließlich sind von fastfoodbedingten Krankheiten vor allem die Armen betroffen, und zwar weltweit.
Mehr Netto vom Brutto, weil gesündere Menschen weniger Krankheitskosten verursachen. Da bleibt dann auch mehr Geld fürs Häuschen, oder sonst zu freien Verfügung.
Und mehr Lebenszeit, um es zu genießen.
Hans-Ulrich Grimm:
Wie Nahrungsmittelkonzerne und Pharmariesen unsere Gesundheit für ihre Profite aufs Spiel setzen