Zucker zählt zu den wichtigsten Produkten des globalen Agrobusiness und wird von den Regierungen in Europa und Amerika seit Jahrhunderten gezielt gefördert. Zugleich ist der weiße Stoff das wohl größte Gesundheitsrisiko auf diesem Planeten. Schon berechnen Ökonomen die weltweiten Wirtschaftseinbußen durch Krankheitskosten und Produktivitätsausfälle. Tatsächlich steht das weiße Pulver bei vielen der Krankheiten im Verdacht, die sich jetzt zu weltweiten Epidemien entwickeln – etwa bei den Herzkrankheiten, Bluthochdruck und Schlaganfall, auch Krebs, und natürlich Diabetes, die „Zuckerkrankheit“.
Dank gezielter staatlicher Förderung ist ausgerechnet der Zucker im 21. Jahrhundert für weite Teile der Menschheit zum Grundnahrungsmittel Nummer 1 geworden. 31 Millionen Hektar weltweit werden für das ungesündeste Element der Nahrungskette verschwendet, doppelt so viel wie im Jahre 1961.
Allein an Zuckerrohr werden nach Angaben der Welternährungsorganisation FAO jährlich unglaubliche 1,904 Millionen Tonnen geerntet, dazu kommen 275 Millionen Tonnen Zuckerrüben. Zusammen also über zwei Billionen Tonnen. Damit stehen die Zuckerpflanzen an der Weltspitze, noch vor Mais, Weizen, Reis.
Und für viele Menschen auf der Welt ist der daraus gewonnene Zucker tatsächlich das Haupt-Grundnahrungsmittel. Die in Deutschland Wohnenden zum Beispiel essen 30 Kilo Zucker pro Jahr, weit mehr als Brot (21 Kilo). In der Schweiz essen sie sogar nur halb so viel Brot (19 Kilo) wie Zucker (41 Kilo). Weltmeister mit einer staunenswerten Jahres-Verzehrsleistung von 214 Kilo Zucker pro Kopf sind die Vereinigten Arabischen Emirate.
Bei allen sogenannten Zivilisationskrankheiten ist der Zucker im Spiel. Sogar beim Krebs, dem »König der Krankheiten«. Denn Krebszellen lieben Zucker und vermehren sich besonders eifrig, wenn sie viel davon bekommen.
Oder Diabetes. Lange hatten es die zuständigen Medizinprofessoren heftig bestritten; mittlerweile ist es jedoch weithin akzeptiert, dass es sich tatsächlich um eine Zuckerkrankheit handelt. Und Morbus Alzheimer halten sogar manche Fachleute nur für eine Variante davon.
Zucker erhöht auch das Risiko für diverse andere Leiden wie etwa das Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätssyndrom (ADHS). Oder die sogenannte nichtalkoholische Fettlebererkrankung (Steatosis hepatis), die schon als neue Volkskrankheit gilt. Eine ganz zentrale Rolle spielt der Zucker beim weltweit grassierenden Übergewicht.
Und das hat nicht mit den Kalorien zu tun, die in ihm stecken, sondern in ganz anderen versteckten Talenten. Denn er kann sich auch in Fett verwandeln und damit das Risiko für Herzkrankheiten erhöhen. Bisher hatten die Fachleute ja die Blutfette wie das Cholesterin in Verdacht – jetzt zeigt sich: Das Blutfett ist womöglich, zumindest teilweise, nur verwandelter Zucker.
Einer der ersten, der auf die komplexen Krankheitsfolgen hingewiesen hatte, war der englische Mediziner und Ernährungswissenschaftler John Yudkin, Professor am Queen Elisabeth College in London. In Büchern wie seinem Klassiker „Süß, aber gefährlich“ („Pure, White and Deadly“) aus dem Jahr 1972 hatte er den Zucker als Auslöser zahlreicher Krankheiten identifiziert.
Und er schlussfolgerte: »Wenn sich auch nur ein kleiner Teil dessen, was wir über die Auswirkungen von Zucker gesichert wissen, für irgendeinen anderen Nahrungsmittelzusatz stichhaltig nachweisen ließe, würde dieser Stoff mit Sicherheit verboten werden.«
Doch die Verbraucher bekämpften über ein halbes Jahrhundert einen ganz anderen Feind: das Fett. Denn in der Wissenschaft hat sich nicht Zuckerkritiker Yudkin durchgesetzt, sondern sein Konkurrent, der Fettbeschwörer Ancel Keys, der, auch mit Tricks und Betrügereien, seine Weltsicht etablierte und für über ein halbes Jahrhundert weltweit das Verhalten von Milliarden Menschen beeinflusste - und den Pharmafirmen Milliardenprofite verschaffte, Jahr für Jahr: Die Medikamente, die das Cholesterin senken, sind Longseller und Blockbuster.
Das Fett geächtet, der Zucker geachtet: Ganz von selbst ging das allerdings nicht: Es bedurfte schon eines aktiven Zutuns, seitens der Lobby, der Zuckerindustrie.
Das wurde bis ins Detail nachgewiesen, von Forschern der Universität von Kalifornien in San Francisco. Sie veröffentlichten im Journal JAMA Internal Medicine, der Zeitschrift der US-Medizinervereinigung American Medical Association, das Ergebnis ihrer Ermittlungen (Sugar Industry and Coronary Heart Disease Research. A Historical Analysis of Internal Industry Documents).
Das sorgte für weltweites Aufsehen. Die New York Times berichtete darüber unter der Überschrift;: „Wie die Zuckerindustrie die Schuld aufs Fett schob“ (How the Sugar Industry Shifted Blame to Fat). Die Zuckerlobby hatte Wissenschaftler bezahlt, die dann wunschgemäß den Zucker entlasteten und das Fett als neuen Bösewicht auf die Bühne schoben.
Die Vorgaben wirkten. Auch in Deutschland traten die führenden Wissenschaftler zur Entlastung des Zuckers an.
Zum Beispiel bei einer Konferenz zum Thema »Süßwaren in der modernen Ernährung« im Jahre 1998 in Freiburg. Ergebnis: Es gebe »keinen Zusammenhang zwischen dem derzeit üblichen Zucker- und Süßwarenkonsum und irgendwelchen Erkrankungen«, so das Fazit der Veranstalter, maßgebliche Exponenten der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE) im Tagungsband aus dem angesehenen Thieme-Verlag.
Im gleichen Band bekundet der einflussreiche Professor Volker Pudel, kurz zuvor noch Präsident der DGE, es gebe »überhaupt keinen Hinweis, dass der Verzehr süßer Nahrungsmittel mit dem Übergewicht in Beziehung steht.« Im Gegenteil. Dicke Menschen nähmen gerade wenig Süßes zu sich, so Pudel.
Das Ergebnis war ganz im Sinne der Sponsoren: Die Tagung in Freiburg wurde veranstaltet »mit freundlicher Unterstützung des Lebensmittelchemischen Institutes der Deutschen Süßwarenindustrie«.
Auch von staatlicher Seite wurde der Zucker stets unterstützt.
Sein Siegeszug ist gewissermaßen der erfolgreichste Fall von Lebensmittelpolitik in der Menschheitsgeschichte. Und das schon seit Jahrhunderten. Genauer: seit Christoph Kolumbus. Er hatte bei seiner zweiten Reise im Jahr 1493 das Zuckerrohr von den Kanarischen Inseln in die Karibik gebracht, die bald zum Weltzentrum der Zuckerproduktion wurde – und zum Quell des Reichtums für Europas Herrschende.
In Spanien konnte König Philipp II. schon um 1560 von den Steuern aus dem Zuckerhandel die wunderbaren Paläste in Madrid und Toledo bauen lassen. Der französische König Ludwig XV. tauschte sogar das riesige Kanada gegen ein paar winzige Zuckerinseln in der Karibik.
Am wichtigsten aber war der Zucker für England: »Die City von London ist auf Zucker gebaut«, sagt ein örtlicher Zuckerkritiker, Professor für Zahngesundheit am University College. Die Tate Gallery, das Museum an der Themse mit den monumentalen Säulen am Eingang - eine Stiftung des Zuckerbarons Henry Tate.
Deutschland hinkte lange hinterher - wurde aber bald Technologieführer auf dem Kontinent, dank staatlicher Lebensmittelpolitik durch Preußens König Friedrich der Große (der »Alte Fritz«; 1712–1786), der sogar eigens nach einem heimischen Pendant für das Zuckerrohr fahnden ließ – und die hässliche Runkelrübe zur »Zuckerrübe« adelte, die bald zur »Königin der Feldfrüchte« avancierte.
Die Tradition wurde auch nach der Abdankung der adeligen Herrscher fortgeführt – erst durch Subventionen, anschließend durch Schutzzölle und außerdem durch politische Unterstützung, etwa der Mitgliedschaft in der International Sugar Organisation (ISO), die von der Bundesrepublik Deutschland alle paar Jahre erneuert wird. Das Ziel, so die deutsche Bundesregierung (Bundestagsdrucksache 16/10760), sei die »Förderung und Intensivierung der internationalen Zusammenarbeit im Bereich der Zuckerpolitik«, aber auch ganz allgemein die »Förderung der Zuckernachfrage«.
Der dank staatlicher Förderung »exzessive Zuckerkonsum« kostet allein in Deutschland acht Milliarden Euro pro Jahr, errechnete eine Forschergruppe der Universität Halle-Wittenberg.
Andere kommen noch auf ganz andere Summen: 30 bis 40 Prozent der US-amerikanischen Gesundheitsausgaben könnten allein dem Zuckerkonsum zugerechnet werden, meint eine Studie der schweizerischen Großbank Credit Suisse mit dem Titel „Zuckerkonsum am Scheideweg“ (Sugar Consumption at a Crossroads). Das bedeutet: eine Billion Dollar im Jahr.
Die Krankheitsfolgen des Zuckerkonsums können die Wirtschaftsleistung weltweit beeinträchtigen, gemäß einer Analyse des New Yorker Finanzkonzerns Morgan Stanley. Allein für Deutschland sei mit einem Minus beim Bruttoinlandsprodukt (BIP) von bis zu einem Prozent zu rechnen, so drei Autorinnen einer Studie zum Thema: „Der bittere Nachgeschmack von Zucker“ (The Bitter Aftertaste of Sugar).
Mittlerweile ist die Politik aufgewacht, und fördert nicht nur den Zucker, sondern auch den Kampf dagegen, etwa in der Europäischen Union, schüttet Abermillionen aus für Forschungsprojekte und Kongressen zu den diversen Krankheiten, an denen der Zucker mitwirkt.
Wobei Fachleute meinen, da gebe es gar nichts mehr zu forschen, alles sei längst bekannt und besprochen. „Alle sprechen über die gleichen Sachen, seit 25 Jahren“, sagte der australische Diabetesforscher Paul Zimmet bei einer solchen Konferenz der Europäischen Union in Brüssel. Er nennt es die „Coca-Kolonisierung der Welt“: die globale Verzuckerung durch die einschlägigen Produkte der „Westlichen Ernährung“.
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