Zurück

Verhalten

Die Nahrungsversorgung kann sich auch auf das Gehirn auswirken, und damit auch aufs Verhalten. Nachgewiesen ist das für das sogenannte Zappelphilipp-Syndrom (ADHS), und sogar für Delinquenz bis hin zu Kriminalität. Depressionen und ängstliches Verhalten, aber auch Aggressionen und dissoziales Verhalten haben nach neuesten Erkenntnissen nicht nur psychologisch oder soziologisch erklärbare Hintergründe, sondern auch kulinarische. Als bisher unterschätzte Ursache für die zunehmenden Verhaltensprobleme gilt die Westliche Ernährung, insbesondere die ultra-verarbeitete Nahrung. Weil Kinder besonders betroffen sind, sorgen sich Fachleute schon um den sozialen Frieden in der Zukunft.

 

"Wenn der Körper nicht die richtigen Nährstoffe aufnimmt“, habe das Auswirkungen auf das Gehirn, und „Probleme mit dem Verhalten“ seien eine mögliche Folge, sagte die britische Brainfood-Expertin Alex Richardson bei einer Konferenz im schottischen Glasgow zum Thema "Ernährung, Verhalten und die Junk-Food-Generation".

 

Die Hinweise auf eine zentrale Rolle der Ernährung beim Verhalten – und vor allem beim Fehlverhalten - gibt es seit Langem. Der US-Kinderarzt und Allergologe Benjamin Feingold hatte schon in den 1970er-Jahren die Ansicht vertreten, ADHS sei eine Folge des Konsums schlechter Nahrung.

 

Auch der Südtiroler Kinderneurologe Joseph Egger, der in London, Aberdeen, München und Meran forschte und lehrte, hatte schon 1985 im britischen Medizinerjournal The Lancet diesen Zusammenhang nachgewiesen – und sogar eine sehr effektive Diät entwickelt.

 

Mittlerweile wird auch immer deutlicher, welche Substanzen in der modernen Nahrung es sind, die das Gehirn stören – und damit auch das Verhalten.

 

Die prominentesten unter ihnen sind die Farbstoffe. Im Verdacht standen sie lange, der definitive Nachweis kam im Jahr 2007, mit der sogenannten Southampton Studie, die auch im Lancet publiziert wurde.

 

Das Team um Professor Jim Stevenson hatte sechs Farbstoffe identifiziert, die seither als Southampton Six bekannt sind („die Sechs von Southampton“):  die Farbstoffe Tartrazin (E102), Chinolingelb (E104), Gelborange-S (E110), Azorubin (E122), Cochenillerot A (E124) und Allurarot AC (E129). Und dazu der Konservierungsstoff  Natriumbenzoat (E211).

 

Zu einem Verbot der Zusatzstoffe konnten sich die europäischen Behörden nicht durchringen, aber immerhin müssen die Farbstoffe aufgrund der Erkenntnisse jetzt einen Warnhinweis tragen: “Kann Aktivität und Aufmerksamkeit von Kindern beeinflussen”. Viele Hersteller musterten sie daraufhin freiwillig aus.

 

Viele weitere Elemente der industriellen Nahrung können das Verhalten stören. Etwa die in Fastfood häufig eingesetzten sogenannten Transfette aus industrieller Produktion. Diese Fette gibt es in der Natur nicht, sie wurden eigens für die Bedürfnisse der Food-Industrie erfunden, und werden auf dem Etikett der Supermarktprodukte als „gehärtete Fette“ oder „Fette, teilweise gehärtet“ bezeichnet.

 

Sie finden sich in industriell produzierten Pommes Frites, aber auch in Keksen und eingeschweißten Fertigkuchen, ebenso in Süßigkeiten, Fertignahrung, Tütensuppe.

 

Die darin enthaltenen Transfette verändern die Gehirnstrukturen, fördern Aggressivität und Hyperaktivität, so eine brasilianische Studie an Ratten, die in der Zeitschrift Neuroscience erschienen ist.

 

Auch Süßgetränke wurden in diversen Studien als Auslöser aggressiven Verhaltens identifiziert. Einen „Zusammenhang zwischen dem Konsum von Softdrinks und schlechtem Verhalten“ gebe es schon bei den Fünfjährigen, so eine Studie von Forschern verschiedener amerikanischer Institute unter Leitung der Epidemiologin Shakira F. Suglia von der Columbia Universität in New York. Dabei ging es um 2929 Kinder aus immerhin 20 amerikanischen Städten. Und es zeigte sich: Je mehr Softdrinks sie schlucken, desto aggressiver wurden sie.

 

Zur Gefahr fürs Gehirn können auch die sogenannten „Weichmacher“ werden, künstliche Hormonstörer („Endocrine Disruptors“), die in vielen Produkten vorkommen, in Fischbüchsen beispielsweise, auch in Getränkedosen, in Deckeln von Bierflaschen, sogar in Babygläschen wurden sie schon gefunden. Der prominenteste heißt Bisphenol A (BPA), dazu gehören auch die sogenannten Phthalate, oder Tributylzinn (TBT) und andere mehr.

 

Sogar die internationale Hormonforschervereinigung („Endocrine Society“) warnte vor den dadurch drohenden „Funktionsstörungen“ im Gehirn, „die sich negativ auf das Gehirn und das Verhalten auswirken“ können.

 

Mehrere Studien haben den Verdacht auf „abnormales Verhalten“ durch den Einfluss solcher Hormonstörer schon im Mutterleib weiter erhärtet, so eine dänische Studie von 2019.

 

Ganz generell habe eine Westliche Ernährung der Mutter schädliche Effekte auf das Gehirn der Kinder und könne „die Gehirnfunktion der Nachkommen lebenslang einschränken“, so eine  im Jahre 2020 veröffentlichte große internationale Studie von Forschern aus Deutschland, Großbritannien, Schweden, Italien, Ungarn, den USA und Kanada unter Leitung von Valentina Cinquina  vom Zentrum für Hirnforschung der Medizinischen Universität Wien.

 

Selbst psychische Beeinträchtigungen sowie ängstliches Verhalten im Erwachsenenalter konnten Cinquina und Kollegen auf ernährungsbedingte „Verdrahtungsdefekte“ im Bauch der Mutter zurückführen.

 

Die ersten 1000 Tage sieht auch die australische Professorin Susan Prescott als Zeit für wesentliche Weichenstellungen, und die Ernährung dabei als zentrales Element für die „Empfänglichkeit für Verhaltensstörungen und psychische Probleme“.

 

So sind zum Beispiel Kinder, die sogenannte Formulanahrung bekommen, also die Säuglingsnahrung aus dem Fläschchen, häufiger verhaltensauffällig. Das fanden Forscher von den Universitäten Oxford, London, Essex und York um die Professorin Maria Quigley heraus. 10 037 Kinder hatten sie dafür untersucht, ihre Studie erschien im Fachblatt Archives of Disease in Childhood. Immerhin 16 Prozent der Kunstmilch-Kinder wiesen als Fünfjährige Verhaltensstörungen auf, bei den Kindern, die mindestens sechs Monate voll gestillt wurden, waren es nur 6,5 Prozent.

 

Die australische Professorin Felice Jacka verweist auf die Hintergründe der zunehmenden Verhaltensstörungen, die „Veränderungen in unserem Nahrungssystem“, und appelliert an die Regierenden, es sei „dringend notwendig“, dass sie die „Lebensmittelpolitik ändern, um die Vermarktung und die Verfügbarkeit ungesunder Nahrungsmittel für die Gesellschaft einzuschränken".

 

Denn es geht ja um die Zukunft aller, um die Art des Zusammenlebens in den kommenden Jahrzehnten – über die, unter anderem, in den neun Monaten im Mutterbauch entschieden wird. Denn wird offenbar sogar das Verhalten der nächsten Generation vorprogrammiert.

 

Sie hatte die Daten von mehr als 23.000 Mütter und ihrer Kinder und deren Ernährung ausgewertet, während der Schwangerschaft und kurz danach, und deren Verhalten beobachtet bis ins Alter von fünf Jahren.

 

Und tatsächlich zeigten manche Kinder mehr Verhaltensauffälligkeiten, Hyperaktivität, mehr Aggressionen, mehr Wutanfälle.

 

Es waren die Kinder jener Mütter, die während der Schwangerschaft mehr ungesunde Nahrungsmittel gegessen hatten, raffinierte Cerealien, wie Corn Flakes oder industrielles Müsli zum Beispiel, süße Softdrinks, wie etwa Cola, und salzige Snacks, wie Kartoffelchips: die globale ultra-verarbeitete Nahrung. Sie wirkt schon aufs Kind ein, bevor es überhaupt das Licht der Welt erblickt, und prägt das spätere Verhaltem pränatal.