Heiß geliebt, tief gekühlt: Die Pizza aus dem Kälteschrank. Gibt leider auch Minusgrade beim Gesundheits-Ranking.
Vor allem die Jungen sind belastet. Das kam jetzt bei einer Untersuchung heraus, in der es auch um gefrorene Pizza ging, Fertigmüsli, sogar Saft. Das neue Bewertungssystem gewinnt weltweit an Einfluss, bis hinauf zur Weltgesundheitsorganisation (WHO). Das Schöne: Es kann auch als Ausweg dienen, sogar als Anleitung zum Abnehmen.
Manches gilt bisher gar nicht als so ungesund, die Tiefkühlpizza zum Beispiel, anderes sogar als gesundheitsförderlich, wie die Cornflakes oder das Fertigmüsli aus der Packung, mit den zugesetzten Vitaminen.
Oder die Säfte, die kilometerlange Regale füllen in Deutschlands Supermärkten: Wir sind offenbar die Nation, die viel zu viel Saft trinkt. Der "Saftverzehr", sagt die Ernährungswissenschaftlerin Antje Hebestreit im Gespräch mit DR. WATSON, läge hierzulande "höher als bei den anderen Ländern", jedenfalls in der jetzt erschienenen internationalen Studie, an der sie mit ihrem Team mitgewirkt hat – und bei der Deutschland einen unrühmlichen Platz belegt hat, ganz vorne, und zwar in einer fragwürdigen Disziplin: ungesunde Ernährung. Da sind wir Spitze. Und das auch, weil die Problemprodukte von vielen Leuten gar nicht als solche erkannt werden.
Die Forscher haben ein neues, zeitgerechtes Bewertungsmodell angewendet, bei dem viele dieser Supermarktwaren plötzlich in einem ganz anderen Licht erscheinen.
Es ist das adäquate Modell für die Beurteilung der Lebensmittelrisiken im 21. Jahrhundert, erlebt eine rasante Karriere, in der Fachwelt, in den internationalen Institutionen bis hin zur Weltgesundheitsorganisation (WHO).
Es erleichtert die gesundheitliche Bewertung von Ernährungssystemen, kann auch als zukunftsweisendes Modell für die Kennzeichnung dienen, und für die Ausrichtung der Ernährungspolitik genutzt werden, wurde schon zur Grundlage von staatlichen Ernährungsempfehlungen.
Und manche nehmen es als individuelle Orientierungshilfe, sogar als Anleitung zum Abnehmen.
Dabei geht es in diesem Modell gerade nicht um so etwas wie Kalorien. Es geht auch nicht um Nährwerte, Schadstoffe, Gift und Bakterienbefall. Sondern um den Abstand von der Natur, den Grad der industriellen Verarbeitung.
Es ist das erste Modell, das die Ernährungsursachen der großen Zivilisationskrankheiten angemessen und präzise erfassen kann, jener „Vorerkrankungen“, die auch die globale Verbreitung von COVID begünstigt und gefördert haben: das „NOVA“-Klassifikationssystem für Lebensmittel.
Es ordnet die Nahrung, je nach Verarbeitungsgrad, in vier Stufen ein. In der höchsten Risikostufe findet sich die „ultra-verarbeitete“ Nahrung, mit den Produkten der großen Konzerne wie Coca-Cola, Nestlé, McDonald’s, Danone. Und: die Tiefkühlpizza.
Dieses Modell hat Ernährungswissenschaftlerin Hebestreit mit ihrer internationalen Forschergruppe auf Deutschland und weitere europäische Nationen angewendet. Es war, so heißt es in der Untersuchung, die erste dieser Art.
Dr. Antje Hebestreit und ihre Leute vom Leibniz-Institut für Präventionsforschung und Epidemiologie in Bremen (BIPS) haben das Computerprogramm entwickelt, in das die Testpersonen zwischen Ostsee und Mittelmeer eingeben konnten, was sie gegessen haben. Mit Hilfe der Software wurde dann den Grad der industriellen Verarbeitung ermittelt und gesundheitlich bewertet.
Das Ergebnis: Deutschland lag vorn, in der Spitzengruppe des Ungesunden. Die südlichen Länder stehen bis jetzt noch besser da – aber sie holen auf, der Abstand zu den Spitzenreitern im Ungesunden wird kleiner. Denn die industrielle Nahrung dominiert immer mehr.
Und nicht nur in Europa. „Das beobachten wir weltweit“, sagt Forscherin Hebestreit, in Indien, in Afrika, Tansania beispielsweise, wo sie ebenfalls forscht: Die Industrialisierung der Nahrungsversorgung, den Übergang von der traditionellen zur sogenannten „westlichen“ Ernährungsweise (Fachwort: Nutrition Transition) – mit den dazugehörigen Risiken und Nebenwirkungen.
Vor allem eine Beobachtung ist für die Wissenschaftler ein Grund zur Besorgnis: Ausgerechnet die Kinder und Jugendlichen werden besonders ungesund ernährt. Und da sie bekanntlich die Gesellschaft von morgen bilden, lässt das für die Zukunft viel Gutes nicht erhoffen.
Beispiel Zucker: Die Studie weist nach, woher die Zuckerschwemme kommt, mit der vor allem die Jungen überschwemmt werden – mit fatalen Folgen für die Figur, aber auch ihre Gesundheit später im Leben.
Denn Zucker schlucken sie zumeist gar nicht pur, als Pulver: für 70 Prozent des Zuckerkonsums bei Kindern und Jugendlichen sind die „ultra-verarbeiteten“ Nahrungsmittel verantwortlich.
Das bedeutet: Nicht „Zucker“ ist der Bösewicht und schuld an kindlichem Übergewicht und Krankheiten, sondern die vielen Produkte, in denen er versteckt ist: Softdrinks und Snacks, die massiv beworben werden, wie auch die vermeintlich gesunden Produkte, jene allgegenwärtigen, oft gesüßten Säfte, die Cornflakes und das Fertigmüsli, Nesquik, Fruchtjoghurt, Fruchtzwerge.
Täglich mussten die Versuchsteilnehmer in acht europäischen Ländern im eigens entwickelten Programm eintragen, was sie am Vortag gegessen hatten. Mit Hilfe des Computerprogramms erfolgte dann die Einstufung nach dem NOVA-Modell, und anschließend wurden die jeweiligen Gehalte an Inhaltsstoffen berechnet.
Ergebnis: Deutschland war insgesamt Spitzenreiter bei der Aufnahme von Zucker (und Kohlenhydraten generell) aus solchen ultra-verarbeiteten Produkten. Und schaffte es insgesamt in die Spitzengruppe beim Verzehr solcher ultra-verarbeiteter Produkte – auch dank der Liebe zur Tiefkühlpizza (Absatz in Deutschland: fast 400.000 Tonnen im Jahr).
Knapp die Hälfte dessen, was hierzulande verzehrt wird, ist ultra-verarbeitet: exakt 48 Prozent. Knapp davor landete die Pommes-Republik Belgien, mit einem Vorsprung von 0,9 Prozent. Bronze beim Wettkampf um das ungesündeste Versorgungssystem bekommt die Heimat des Ikea-Hotdogs: Schweden (46,1 Prozent Ultra-Anteil).
Besonders bemerkenswert: Die Länder mit der weithin gerühmten Mittelmeerküche haben zur ultra-ungesunden Spitzengruppe aufgeschlossen. Italien beispielsweise kam bei einer früheren Untersuchung nur auf einen Anteil von 13,4 Prozent an ultra-verarbeiteten Nahrungsmitteln, jetzt waren es 44,4 Prozent.
Und auch auf der iberischen Halbinsel hat offenbar der Trend zur Industrialisierung die Versorgungslage verändert. Bei einer früheren Untersuchung lag dort der Wert bei 10,2 Prozent (für Portugal), jetzt bei 43,3 Prozent (in Spanien), exakt der gleiche Wert wurde für die Mittelmeerinsel Zypern gemessen, und im Gulaschland Ungarn waren es 45,8 Prozent (jeweils bezogen auf die aufgenommene Nahrungsenergie).
Also: Europa, ach was, die ganze Welt rückt zusammen, gewissermaßen vor der Mikrowelle, und schiebt gemeinsam Ungesundes rein.
Das NOVA-Konzept hat sich in der wissenschaftlichen Welt zum maßgeblichen Instrument entwickelt bei der Bewertung des gesundheitlichen Werts der Nahrung. Wie ungesund dabei die „ultra-verarbeitete“ Nahrung ist, das haben in jüngster Zeit zahlreiche Untersuchungen bekräftigt.
Wie weitreichend ihre Wirkung sein kann, hat sich in der Zeit der Pandemie gezeigt: Die „ultra-verarbeitete“ Nahrung gilt als wesentliche Ursache jene "Vorerkrankungen", die bekanntlich COVID begünstigen: die modernen Zivilisationsleiden, im medizinischen Fachjargon: die „nichtübertragbaren Krankheiten“.
„Es gibt immer mehr Hinweise darauf, dass ein hoher Verzehr von ultrahochverarbeiteten Lebensmitteln mit einer Zunahme von nichtübertragbaren Krankheiten, Übergewicht und Fettleibigkeit verbunden ist“, bilanzierte im Frühjahr eine italienische Untersuchung.
Im einzelnen listeten chinesische Forscher auf: ein „erhöhtes Risiko“ für vorzeitiges Ableben, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Bluthochdruck und Schlaganfälle, Depressionen, Reizdarmsyndrom, verschiedenen Krebsarten, Asthma bei Jugendlichen sowie Gebrechlichkeit bei den Alten.
Mehrere Studien in den letzten Monaten haben Zusammenhänge mit Krankheiten aufgezeigt, auch eine spanische, eine japanische sowie eine portugiesische. Sogar die weltweit führenden Gesundheitswissenschaftler von der amerikanischen Harvard University, sozusagen der weltweit höchsten Instanz auf diesem Feld, haben jetzt ihre über Jahrzehnte hinweg angelegten Datensammlungen mit Hilfe der NOVA-Kriterien durchforstet, wie sie in einem soeben erschienenen Artikel berichten.
Damit ist das Modell endgültig in der globalen Forscher-Community etabliert und sozusagen amtlich anerkannt, mit den höchsten Weihen versehen.
Und es sollte auch genutzt werden, fordern die Fachleute. Sie sehen, basierend auf ihren Beobachtungen, immer drängenderen Handlungsbedarf, gerade im Hinblick auf die Zukunft, auf Wohlstand und Wohlfahrt in den Gesellschaften dieser Welt.
Denn die Prognosen sehen düster aus. Bisher richtet sich die Aufmerksamkeit fast ausschließlich auf den Klimawandel auf diesem Planeten. Dabei könnten die Menschen mancher Regionen die finalen Auswirkungen gar nicht mehr erleben: In der Südsee zum Beispiel.
Bevor die flachen Eilande dort vom steigenden Meeresspiegel überflutet werden, könnten die Menschen längst ausgestorben sein, ausgerottet von Diabetes und anderen „nichtübertragbaren“ Krankheiten nach massenhaftem Konsum ultra-verarbeiteter Nahrung, die sich dort besonders rapide verbreitet.
Und es geht nicht nur um ferne Inselvölker, sondern auch um die Jugend hierzulande und ihre Zukunft, ihre Gesundheit, und ihre Belastung durch Krankheitsfolgen. Bisher demonstrieren sie mit Vorliebe fürs Klima – und übersehen dabei eine viel unmittelbarere Bedrohung.
Denn die Kinder und Jugendlichen sind mit industrieller und vor allem ultra-verarbeiteter Nahrung konfrontiert (und belastet) wie keine andere zuvor.
Dass der Konsum von solchen Produkten schon Kinder dick und krank machen kann, zur Zuckerkrankheit Diabetes führen und sogar ihr Herz belasten kann, hatte etwa die im vorigen Monat erschienene Untersuchung eines Forschungszentrums der Europäischen Kommission aus 27 Ländern auf der Basis von Branchendaten betont. Sie ermittelte die weite Verbreitung von ultra-verarbeiteter Nahrung schon bei Kleinstkindern – und die gezielte Irreführung der Eltern durch die Werbung, in der selbst ultra-verarbeitete Babykekse, Baby-Cerealien, Baby-Snacks als „natürlich“ angepriesen wurden.
Besonders problematisch: Die nachwachsende Generation ist der ultra-verarbeiteten Problemnahrung sogar mehr ausgesetzt als ihre Eltern oder gar Großeltern. Das hat die Untersuchung von Ernährungsforscherin Hebestreit und ihren Wissenschaftlerkollegen gezeigt.
Über die gesamte internationale Beobachtungsgruppe hinweg waren bei den Erwachsenen etwa 40 Prozent der Nahrung ultra-verarbeitet, bei Kindern und Jugendlichen aber 50 Prozent. Auch hier lagen die deutschen Kids an der Spitze, gemeinsam mit ihren Altersgenossen aus Belgien und Schweden.
Beim Zuckerkonsum insgesamt lagen die Kids in Deutschland und Estland vorn, ganz hinten überraschenderweise ihre Altersgenossen aus dem Ferrero-Land Italien („Kinder-Schokolade“).
In „allen Ländern“, so die Studie, lag die Gruppe der 6- bis 10jährigen vorn beim Zuckerkonsum aus ultra-verarbeiteten Nahrungsmitteln.
Das deckt sich mit anderen Untersuchungen aus aller Welt, die zeigen, dass der Konsum des Ultra-Ungesunden bei immer mehr Kindern auf dieser Welt dominiert. So sind 79 Prozent der für Kinder angebotenen Produkte in Supermärkten nach einer brasilianischen Untersuchung ultra-verarbeitet.
Schon kurz nach der Geburt wird vielen Kindern ultra-verarbeitete Nahrung eingeflößt, die Fläschchenmilch von Milupa, Nestlé Beba, Aptamil. Wenige Monate später geht es weiter mit den Gläschen von Hipp und anderen, den Quetschbeuteln mit dem Obstmus ("Quetschies"), den Fruchtzwergen, später folgt die ganze Fastfood-Palette von McDonald’s, die Softdrinks und Energydrinks. Und die Tiefkühlpizza begleitet oft die ganze Kindheit, sogar im Kindergarten schon, wenn das Mittagessen von einem Kochkonzern wie Apetito kommt (siehe auch die DR. WATSON-Reportage zum Werksbesuch).
Vieles davon gilt nicht als problematisch, gar als gesund. Die Menschen, auch die Eltern, vertrauen darauf - verhängnisvollerweise.
Nötig ist deshalb ein neuer Blick auf die Ernährung. Denn für die Forscher ist klar: Mit verfehlter Ernährungspolitik werden die Grundlagen geschaffen für eine Erkrankungswelle, die unsere Kinder und Enkel später mit voller Wucht treffen wird – inklusive explodierender Krankheitskosten, die allmonatlich zwangsweise vom Gehalt beglichen werden müssen, in Gestalt von Versicherungsbeträgen.
Nur weil die Oma gedacht hat, eine Tüte Gummibärchen freut ihre Enkel. Und die Mama meint, Saft sei gesund. Und weil die Tiefkühlpizza so billig ist.
An die künftigen Krankheitskosten hat bisher noch niemand gedacht.
Jetzt aber fordern die Forscher immer nachdrücklicher auch politische Maßnahmen. Der NOVA-Pionier Carlos Augusto Monteiro, brasilianischer Professor und international gefragter Experte etwa bei der Weltgesundheitsorganisation (WHO), hat umfangreiche Vorschläge erarbeitet, wie die künftigen Krankheiten sich auch im aktuellen Preis der ultra-ungesunden Produkte wiederfinden können.
Wenn die Folgekosten gleich eingepreist und an der Supermarktkasse beglichen werden, könnte die Oma, wenn sie ihren Enkeln Süßes von Haribo schenkt, netterweise auch gleich einen Beitrag zur Begleichung der späteren Krankheitskosten leisten. Sagen wir: Acht Euro für die Gummibärchen. Zur Entlastung von Chantal und Jan-Torben, wenn sie später die Folgen zu spüren bekommen. Und: Echtes Essen muss im Gegenzug billiger werden. Dann werden sich die Leute automatisch für die richtige Pizza von Enzo an der Ecke entscheiden oder sie gar selber backen.
Natürlich sollte die Aufklärung über allfällige Risiken massiv ausgebaut werden, fordert Monteiro, auch sollte ein übersichtliches Label zeigen, auf welchem NOVA-Level sich ein jedes Nahrungsmittel befindet. Werbeeinschränkungen sollten die Propaganda fürs schädliche Problemnahrung unterbinden und so vor allem Kinder schützen.
Gerade angesichts des unrühmlichen Spitzenplatzes beim Ungesunden wäre die Zeit reif, meinte die Bremer Ernährungswissenschaftlerin Hebestreit gegenüber DR. WATSON: „Die Politik hat da ein sehr großes Potenzial, der Bevölkerung unter die Arme zu greifen." Sie vertraut da auf künftige milliardenschwere Forschungsprogramme der Europäischen Union (EU).
Bisher allerdings hat die EU, ebenso wie die nationalen Regierungen, leider eher die Hersteller des Ungesunden begünstigt. Und auch die Bundesrepublik Deutschland hat, etwa wenn es um die weltweiten Gesetze und Vorschriften geht, gern gemeinsame Sache mit den einschlägigen Konzernen gemacht. Und sogar ihren obersten Ernährungsforscher gratis für die Lobby wirken lassen.
Bisher, sagt auch Professor Monteiro, haben beim „Krieg ums Essen“ die Mächte des Ungesunden die besseren Waffen, gegenüber den Kämpfern fürs Gesunde, den Köchen, Bauern, Gärtnern und ihren Kunden.
Aber vielleicht ändert sich das ja. Irgendwann.
Bis dahin kann ja jeder selbst die NOVA-Kriterien fürs persönliche Leben nutzen. DR. WATSON-Leser nehmen sie sogar als Anleitung zum Abnehmen - und zwar mit Erfolg.
Mehr über das NOVA-System und den Krieg ums Essen:
Wie Nahrungsmittelkonzerne und Pharmariesen unsere Gesundheit für ihre Profite aufs Spiel setzen