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Imitate

Nahrungsimitate stammen eigentlich aus Zeiten der Not und des Mangels. Heute dienen sie in erster Linie der Einsparung von teuren Rohstoffen. Am bekanntesten sind Analogkäse und Formfleischvorderschinken. Das Krebsfleisch-Imitat Surimi zählt zu den am weitesten verbreiteten Imitaten. Die Amerikaner nennen derlei Imitate »Fake Food«, Falschnahrung. Bisher hatten die Nachbildungen ein schlechtes Image, nicht nur weil sie aus der Not geboren waren oder gar von Betrügern stammten. Das hat sich geändert: Viele genießen sogar die besondere Sympathie von Medien und Öffentlichkeit, wie etwa, im Zeitalter des Veganismus, die tierfreien Nachbildungen von fleischhaltigen Speisen.

 

Früher waren die Arsenale der Fälscher sehr begrenzt, doch das hat sich geändert. Die technischen Hilfsmittel der Nahrungsindustrie schaffen natürlich ein wahres Paradies für Imitatoren – und sorgen für erstaunliche Verbreitung: Bei manchen Kontrollen in den deutschen Bundesländern waren bis zu zwei Drittel der Schinken gefälscht.

 

Dabei ist es zumeist nur eine Frage der Kennzeichnung: Die Hilfsmittel zum Betrug sind ja erlaubt, etwa das Aroma, oder der Nahrungsklebstoff Transglutaminase, der nicht nur bei Schinken oder Meeresfrüchten aus Abfällen zum Einsatz kommen kann, sondern auch bei veganen Würstchen oder einem Veggieburger.

 

Und auch in einem veganen „Schokoladenimitat“, das Schweizer Behörden beanstandeten, war nichts Verbotenes drin: Es hätte nur nicht „vegan“ heißen dürfen, weil in dem Produkt „auf Basis von Reis und Erdmandelgriess“ auch ein Milchprotein drin war, das auf verschlungenen Wegen von einem Tier stammte.

 

 Viele der Erfindungen stammen aus entbehrungsreichen Zeiten: Roggenbrot ohne Roggen beispielsweise oder die blutgefärbte Ersatzwurst aus Soja, die sich der frühere deutsche Bundeskanzler Konrad Adenauer patentieren ließ. Er hatte die Pseudo-Produkte in der Zeit des Ersten Weltkriegs erfunden, um kriegsbedingte Hungersnöte zu lindern.

 

Schon die DDR hatte auf diesem Gebiet Weltniveau: Das Institut für Hochseefischerei und Fischverarbeitung in Rostock etwa erfand ein »Verfahren zur Herstellung körniger Proteinformgebilde« – Kunstkaviar aus Schlachtblutplasma.

 

Ein Leipziger Lebensmittelchemiker namens Klaus Valdeig avancierte mit ähnlichen Innovationen gar zu einer Stütze der DDR-Wirtschaft. Sein schönstes Kunststück gelang ihm mit Konfekt: Er ersetzte die übliche Pralinenfüllung durch eine Masse aus

zähflüssig gekochten Erbsen, Zucker und Aromaten. Die Zusammensetzung galt als Geheimsache, auf dem Etikett erschienen nur analytische

Daten, Fett, Kohlenhydrate, Kalorien.

 

Ob das »kakaoähnliche Produkt« aus roten Rüben hergestellt war (Patent-Nummer DD 226 763 A1) oder aus gezuckerten Getreidekeimen (Patent Nummer DD 245 355A1), ob gar Viehfutter oder Fischmehl beigemengt war, das konnten die Bewohner des Arbeiter- und Bauern-Staates nur erahnen.

 

Die Verwendung von gefälschten Nahrungsmitteln ist indessen nicht immer Ausdruck nackter Not oder der verzweifelten Suche nach Einsparpotenzialen im Produktionsprozess. Bisweilen müssen die Techniker ihre Rohstoffe optimieren, weil die fragilen Naturerzeugnisse die Produktionsbedingungen in der Fabrik nicht aushalten.

 

Der Unilever-Konzern etwa hat ein Verfahren erfunden, mit dem laut Patentschrift »die Absicht verfolgt wird, natürliche Früchte vorzutäuschen«. Dazu wird »Fruchtmaterial«, etwa »Himbeerabfälle« oder ausgepresste Reste von Beeren, mit einem Gelee zu einem bissfesten Etwas zusammengefügt, in dem Algenextrakt, Geschmacks- und Farbstoffe enthalten sind. Diesen »simulierten Früchten« (Patentschrift) kann weder die Backhitze noch das »Eindosen« etwas anhaben. Unilever versichert, das Patent niemals ausgenutzt zu haben.

 

Großen Erfolg hat hingegen die Firma Ocean Spray, eine amerikanische Zulieferfirma. Ihre Ingenieure haben die Früchte ebenfalls technologisch optimiert, und robuste Cranberries, eine Art Preiselbeeren sozusagen umgeschult, so dass sie in Industrieprodukten  die Rolle von sensiblen Früchtchen wie Himbeeren, Erdbeeren, Heidelbeeren übernehmen können.

 

Und so schwärmt ein Firmenprospekt: »Selbst Produkte, die bei der Herstellung rigorosen Verarbeitungsbedingungen ausgesetzt sind«, könnten Geschmack und Anmutung »von natürlichen Pfirsichen und Orangen behalten, damit den Verbrauchern das Wasser im Munde zusammenläuft«.

 

Von solchen Imitaten sind die Konsumenten nicht immer nur begeistert. Dem Fleischersatz Quorn etwa war in Deutschland nur ein ganz kurzes, unerfreuliches Dasein vergönnt. Er wurde in einigen bayrischen Testmärkten eingeführt und dann wieder abgezogen.

Denn Medien hatten Unschönes über das Produkt berichtet: Das Erzeugnis, von einem englischen Chemie-Multi entwickelt, wurde aus Schimmelpilz-Kulturen gewonnen. Die Briten störten sich weniger an dem Schimmel-Image; Schulkinder auf der Insel hielten Quorn nach Presseberichten »für Putengeschnetzeltes«. Auch die Schweizer nehmen es an, beim Migros-Konzern etwa unter dem Namen »Cornatur«.

 

Dank industriellem Aroma sind den Imitationen kaum Grenzen gesetzt. Die Hersteller der Geschmacksstoffe werben sogar damit: »Käseimitate gewinnen in vielen Märkten an Bedeutung«, so weiß ein Aroma-Prospekt: »Ihnen den typischen und ausgereiften Geschmack eines natürlichen Käses zu geben, ist mit diesen Aromen möglich.« Der legendär gewordene Analogkäse enthielt denn auch häufig solche Geschmacksstoffe.

 

Zwar ist Verbrauchertäuschung eigentlich verboten, und früher wurde Geschmacksfälschung auch streng verfolgt, aber mittlerweile haben die Behörden dazu ein entspannteres Verhältnis, zumal die zuständigen Institutionen die nötigen Tricks und Technologien legalisiert haben, und zwar gleich im globalen Maßstab, wie etwa der sogenannte Codex Alimentarius, einer Uno-Institution, die gewissermaßen als Weltregierung in Sachen Lebensmittel fungiert.

 

Eine glanzvolle Zukunft gewinnen die Imitate im Zeitalter des Veganismus: Hamburger ohne Fleisch, Käse, Joghurt, Quark ohne Milch, Würstchen auf Pflanzenbasis: Mit Hilfe von Chemie und auch Gentechnik entsteht ein ganzer Kosmos aus Nachahmungsprodukten – und das auch noch mit dem glanzvollen Nimbus höherer Moralität.

 

Nur gesund ist das nicht unbedingt, angesichts der enthaltenen Zusatzstoffe und ihrer Wirkungen beispielsweise auf den Darm und damit auch aufs Gehirn, aufs Gemüt und auch aufs Verhalten.