Der Krieg in der Ukraine: Die Menschen dort leiden, sie weinen, stehen vor leeren Supermarktregalen. Doch die Schockwellen reichen weiter, um die ganze Welt, und sie führen nicht nur zu Furcht vor militärischer Aggression, Luftschlägen, Bombenhagel, sondern auch vor Lücken bei der Versorgung mit lebensnotwendiger Nahrung.
Bei uns geht es um Dinge wie Apfelsaft, Sonnenblumenöl, Fruchtjoghurt, auch um steigende Preise fürs Schnitzel. Anderswo ist es die nackte Angst vor dem Hunger. Auch der deutsche Landwirtschaftsminister ist in Sorge.
Zu den vielen unangenehmen Überraschungen bei diesem schrecklichen Krieg gehört auch die Erkenntnis, wie abhängig die Ernährung der Welt von diesem fruchtbaren Land ist. Und welche Folgen es haben könnte, wenn sich ein Aggressor dessen bemächtigen und sich zum Herrscher über die Welternährung aufschwingen würde.
Denn die Ukraine gilt als „Brotkorb der Welt“.
Die ukrainische Flagge symbolisiert die agrarische Basis des nationalen Selbstbewusstseins: Das Gelb für die blühenden Felder, das Blau darüber für den strahlenden Himmel. Ackerstolz.
Schon Hitlerdeutschland wollte sich die fruchtbare Region einverleiben. Heute ist sie ein fester Bestandteil der globalen Nahrungsversorgung, in manchen Bereichen sogar der wichtigste. Das Kriegsgebiet war bislang ein bedeutendes Zentrum für die Zulieferer der internationalen Nahrungsindustrie.
Und jetzt?
Jetzt wird plötzlich klar, wie sich der kriegerische Konflikt dort auf die weltweiten Lieferketten auswirken kann. Und auf unseren Alltag.
Bisher ging es nur um Erdöl, um Kabelbäume, fürs Auto. Jetzt geht es auch um uns selbst. Um Salatöl und Apfelbäume. Um Getreide. Erdbeeren. Schweinefutter, fürs Nackensteak, die Würstchen. Und um den Senf dazu.
Schon warnen die Vereinten Nationen vor weltweiten Hungerkrisen. In Gefahr ist das Land selbst, es trifft aber auch importabhängige Länder wie Ägypten, die Türkei, die armen Länder Afrikas, ja sogar Südkorea.
Die Ukraine ist, ohne dass wir das recht gemerkt hatten, zu einer zentralen Säule des globalen industriellen Ernährungssystems geworden.
Sie ist sogar Weltmarktführer bei diversen Agrarprodukten, mit einem Anteil von 40 Prozent bei Roggen, über 50 Prozent beim Sonnenblumenöl, und bei Soja stammen sogar zwei Drittel der europäischen Produktion von dort.
Weitaus dramatischer wird es, wenn Aggressor Russland die Ernte einfahren kann und noch größere Teile der Weltproduktion dominiert. Ganz plötzlich zeigt sich, dass die herrschende industrielle Versorgungskette anfällig für gefährliche Machtmonopole: allein Russland und die Ukraine stehen für 12 Prozent der weltweit gehandelten Kalorien.
Die Globalisierung der Nahrungsversorgung galt bislang eigentlich als super, bedeutete jederzeitigen Zugriff auf Avocados und Bananen, Cappuccino, Kakao, Kokosnüsse. Und ein Mangel an der einen Stelle konnte schnell durch Überschüsse an der anderen ausgeglichen werden. Das System erschien als Garant einer sicheren Versorgung.
Doch jetzt der Schock. Unterbrochene Lieferketten. Fehlende Teile. Das System ist ganz offenkundig alles andere als sicher, sondern im Gegenteil äußerst labil und höchst anfällig für Krisen und Störungen
Binnen kurzer Zeit sind die bisherigen Gewissheiten massiven Zweifeln gewichen. Ängste kommen auf. Die Verletzlichkeit des Systems wird offenbar. Und das auf einem existenziellen Gebiet: der Versorgung mit Lebensmitteln.
Die Sicherheitsdebatte hat begonnen. Schon ist, bei den Krisentreffen der EU-Agrarminister, ein neues Zauberwort aufgetaucht. Es heißt: Ernährungssouveränität.
Tatsächlich haben wir gerade bei der Ernährung die Macht schon lange aus der Hand gegeben, übertragen an ein anonymes System, mit undurchsichtigen Lieferketten, komplexen Produkten von zweifelhafter Qualität.
Die Globalisierung geht auch einher mit Industrialisierung, mit Arbeitsteilung, mit weiten Transporten, Maßnahmen zur Verlängerung der Haltbarkeit – mit all ihren Schattenseiten, chemischen Zusatzstoffen, schädlichen Verarbeitungsprozessen, den Folgen für die Gesundheit.
Der Krieg in der Ukraine ist auch zu einem Schauplatz in jenem Krieg ums Essen geworden, bei dem sich ebenfalls zwei Parteien gegenüberstehen: Auf der anderen Seite die traditionellen Lieferanten, kleine Bauern und Produzenten, dezentrale Versorgungsstrukturen. Auf der einen Seite die internationale Nahrungsindustrie, mit den großen globalisierten Konzernen (siehe Hans-Ulrich Grimm: Food War).
Bis jetzt dominieren die Verfechter des Globalismus, die großen Konzerne, die in ihren Fabriken die Früchte der Natur transformieren.
Sie haben auch in der Ukraine, nach dem Untergang der Sowjetunion, die fruchtbaren Landschaften in ihr weltumspannendes System integriert, ein System, das nicht nur fragil ist, sondern auch von zweifelhaftem gesundheitlichen Wert, wie sich zuletzt in der Corona-Krise gezeigt hatte (siehe DR. WATSON NEWS vom 25.11.2021)
Damals schnell zur Stelle war etwa jene süddeutsche Milliardärsfamilie, die in ihren Fabriken Babygläschen produziert, und natürlich ganz begeistert war über die bemerkenswert ertragsversprechenden Ländereien. Hier gebe es „ausgezeichnete Bodenbedingungen“, schwärmte der Chef: „In der ukrainischen Schwarzerde beträgt die fruchtbare Bodenschicht einen Meter“, in den meisten Böden anderswo auf der Welt seien es höchstens 20 Zentimeter, sagte Stefan Hipp gegenüber einem örtlichen Internetportal.
Und auch sonst gab es ideale Expansionsbedingungen: „Wir haben die Ukraine als ein Land mit dem großen Markt betrachtet, wo es viele Kinder gibt.“
Seine Familie ist seit dem Ende des Sowjetreichs hier aktiv: „Wir sind in der Ukraine, Russland, Weißrussland, Moldawien, Georgien, Armenien, Aserbaidschan, Usbekistan, Litauen, Lettland, Estland vertreten.“
Sein Vater, Claus Hipp, war nebenberuflich Maler und hatte früh schon in Kiew ausgestellt. Generationen von Eltern ist er als Werbefigur für seine Babygläschen in Erinnerung („Dafür stehe ich mit meinem Namen“), deren unübertroffene Reinheit er mit großer Überzeugungskraft pries.
Mittlerweile wird immer deutlicher: Gerade die Reinheit ist ein bisher übersehenes Risiko - fürs kindliche Immunsystem.
Die Verarbeitung in den Hipp’schen Werken macht Babybrei zwar haltbar, zwei Jahre statt, wie beim hausgemachten, bloß zwei Stunden, und die sensiblen Früchte der Natur somit globalisierungsfähig,
Nur: Gesund fürs Kind und damit für die Gesellschaft der Zukunft ist das nicht unbedingt. Denn in Medizin und Wissenschaft wird immer klarer: gerade die beliebten Babygläschen, aber auch die höchst profitable Kindermilch könnten Allergien fördern, die Abwehrkräfte schwächen, zu Übergewicht und ungesunder Vorliebe für Süßes beitragen.
Die Eltern haben die Zuständigeit für die Ernährung ihrer Kinder abgegeben, die Regierenden haben ihre Verantwortung weitergereicht an den Weltmarkt, ein anonymes System, in dem alle fremdbestimmt sind, profitgesteuert, auch dieses gesegnete Land mit seinen fruchtbaren schwarzen Böden, das sich für den Weltmarkt fit gemacht hat, oft dirigiert von fremden Herren, das geliefert hat, was das herrschende Ernährungssystem verlangt, und nun ausfällt, weil es dem bösen Nachbarn nicht gefällt.
Und wir spüren nun, wie wir betroffen sind, von diesem Krieg ums Essen, und Trinken, auch bei einem weiteren alltäglichen Produkt, das in den Supermärkten ganze Regalreihen füllt, dank - bislang - stetig fließender Warenströme, auch aus der Ukraine: dem Apfelsaft. Ein vermeintlich gesundes Naturprodukt, das aber durch industrielle Erzeugung und internationale Lieferketten in scheinbar unbegrenzten und sogar ungesunden Mengen verfügbar ist, deutlich wertgemindert, ja krankheitsfördernd.
Ähnlich bei einem anderen Vorprodukt, der sogenannten Fruchtzubereitung für den Joghurt: Auch der wurde in der Ukraine produziert, bis zur kriegsbedingten Stilllegung der Anlagen, vom Weltmarktführer auf diesem Feld, der zum Südzucker-Konzern gehört.
Zucker ist schließlich ein wichtiger Bestandteil dieser Produkte, und auch der wird in dem fruchtbaren Gebiet hergestellt, in 29 Fabriken, jährlich, vor dem Krieg, insgesamt 670.000 Tonnen.
Ebenso wie das industrielle Aroma, das den entsprechenden Geschmack vortäuschen soll, und dadurch unter anderem zu Übergewicht führen kann (Geschmacksfälschung).
Einer der international führenden Aroma-Konzerne war schon früh in der Ukraine aktiv: der Heidelberger Zusatzstoff-Zulieferer Wild, der jetzt zu einem US-Konzern gehört, und seinen Super-Hit Capri-Sonne seit Jahrzenten auch in der Ukraine herstellen lässt.
Am wichtigsten für die Welt aber ist die Ukraine bei einem weiteren Produkt, das ebenfalls unauffällig und harmlos erscheint. Das Sonnenblumenöl. Der Exportschlager der Ukraine. Weltmarktanteil hier: 51 Prozent. Zusammen mit Russland sind es sogar an die 80 Prozent.
Ausgerechnet hier ist Deutschland besonders fremdbestimmt: 94 Prozent wird importiert. Schon fragen Medien: „Geht uns bald das Sonnenblumenöl aus?“
Sonnenblumenöl, das klingt eigentlich sehr gesund. Doch es wird keineswegs nur in die Salatsauce verzehrt. Es wird auch in die Friteuse gekippt, für die Pommes, etwa von McDonald’s. Oder in die Mayo gerührt.
Sonnenblumenöl gilt als Problemöl, weil immer mehr davon verzehrt wird, wie übrigens auch Soja-Öl, und dadurch gesündere, aber weniger haltbare Fette verdrängt werden, was wiederum fürs stark fettlastige menschliche Gehirn zum Problem werden kann, Psyche und Verhalten beeinflussen, sogar die Gewaltbereitschaft erhöhen, wie manche Wissenschaftler glauben (siehe Hans-Ulrich Grimm: Dumm gegessen).
Vieles wird in dem Land am Schwarzen Meer gar nicht unmittelbar für die menschliche Ernährung produziert, viele jener Produkte, bei denen es zu den Big Playern auf dieser Welt gehört.
Sonnenblumenschrot beispielsweise, Sojaschrot, Raps auch - und Mais. Hier liegt die Ukraine mit einem Exportvolumen 33,5 Millionen Tonnen sogar unter den weltweiten Top 3, hinter den USA und Argentinien, noch vor Brasilien. Für die Europäische Union ist das Kriegsland bisher überraschenderweise sogar der wichtigste Maislieferant gewesen.
Doch hier geht es nicht um Tortilla oder Tofu, sondern: um Tierfutter, das die armen Mitgeschöpfe in den industriellen Massenställen in den Trog kriegen.
Ein ganz besonders sensibles Thema, ein problematischer Bereich, mit besonders weitreichenden Folgen, nicht nur für die bedauernswerten Tiere, sondern auch für die Menschen, die zwar dadurch massenhaft billigstes Fleisch bekommen – aber auch eine ganze Reihe von Krankheiten, für die Fleisch bekanntlich ein Risikofaktor ist.
Die Problematik auf den Punkt gebracht hat der beliebte deutsche Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) mit seiner Frage:
"Welchen Sinn macht Tierquälerei, damit wir uns ungesund ernähren und dabei auch noch das Klima ruinieren?".
Das dank Import-Tierfutter massenhaft erzeugte „Billigfleisch“ ernährt vor allem die Armen – und macht sie krank.
Auch der grüne Kabinettskollege Cem Özdemir hatte die „Ramschpreise“ fürs Fleisch kritisiert.
Nur: Wenn jetzt Fleisch teurer gemacht wird, wenn die Steuern dafür erhöht werden, wie das in seltenem Einklang die Aktivistenorganisation Greenpeace und der Fleischbaron Tönnies gefordert hatten, dann schadet das ausgerechnet den Bauern mit den glücklichen Tieren, die jetzt schon viel verlangen müssen – und mit noch höheren Preisen in den Ruin getrieben würden.
Der Krieg hat erst mal neue Tatsachen geschaffen. Stopp der Lieferketten. Höhere Preise fürs Importfutter. Nachdenkzwang für Politiker.
Immerhin: Die Europäischen Agrarminister, die sich jetzt häufiger zu Krisensitzungen treffen, haben schon ein neues Ziel proklamiert: Die Wiederherstellung der „Ernährungssouveränität“.
Auch hier eine Wende um 180 Grad.
Die bisherige Politik hatte dazu geführt, dass die Bundesrepublik Deutschland immer weniger in der Lage ist, die Bevölkerung zu ernähren. So ist der sogenannte Selbstversorgungsgrad von 98 Prozent im Jahr 1990/91 auf 88 Prozent in 2019/20 gesunken.
Und zudem wollte die Europäische Union ihre Bauern absurderweise zum partiellen Nichtstun zwingen: Ab 2023, also nächstem Jahr, gilt eine Pflicht zur Stilllegung von 4 Prozent der landwirtschaftlichen Fläche. Völlig absurd, ausgerechnet in dieser Situation wertvolle Felder brachliegen zu lassen.
Ernährungssouveränität: Das bedeutet natürlich mehr Autonomie, mehr Unabhängigkeit, mehr Freiheit. Mehr Eigenproduktion, mehr Eigenverantwortung, mehr Sicherheit. Mehr Nähe, auch zur Natur, zu natürlichen Kreisläufen.
Ernährungssouveränität. Bei den Tieren würde das bedeuten: Dass deren Ernährung wieder in die eigene Hand genommen wird, das Futter selbst erzeugt, auf dem eigenen Hof, und der Mist, hinterher, wieder als Dünger genutzt wird.
Das hätte noch einen zusätzlichen Souveränitäts-Effekt, denn ausgerechnet beim Dünger sind wir Europäer abhängig von russischen Erzeugnissen: „Unsere hochindustrialisierte Landwirtschaft hängt am russischen Düngemittel-Tropf“, moniert etwa die Essens-Initiative Foodwatch.
Und selbst bei der inländischen Herstellung von Kunstdünger wird Erdgas benötigt, das bekanntlich auch nicht unter deutscher Scholle in ausreichender Menge gefördert werden kann.
Ernährungssouveränität, das bedeutet natürlich auch mehr Selbstbestimmung. Die Kontrolle wiedergewinnen über Zusammensetzung der Nahrung. Das Ende der Entfremdung und Abhängigkeit von fremden Mächten, Willkür der Weltmärkte, mehr Nähe zur Natur, der inneren und äußeren. Ein neues Qualitätsbewusstsein, das die Lebensmittel nach diesen Kriterien betrachtet.
Als Orientierung kann hier die NOVA-Klassifikation für Lebensmittel dienen, mit ihren innovativen Gütekriterien, die sich am Grad der industriellen Verarbeitung orientieren. Als Problem identifiziert werde hier vor allem die „ultra-verarbeiteten Nahrungsmittel“, die bei uns dominieren, jene komplexen Produkte wie Fastfood und Fertiggerichte, Babygläschen und Tiefkühlpizza, jene komplexen Produkte mit ihren unergründlichen Kompositionen aus Chemikalien und Zutaten aus den unergründlichen Tiefen des Weltmarktes.
Die Transformation, von Wissenschaftlern und Medizinern seit langem gefordert, ist überfällig.
Es ist natürlich tragisch, wenn eine solche Transformation durch einen schrecklichen Krieg angestoßen werden muss.
Doch so widerlich Kriege sind, so haben sie doch ihre Effekte, mitunter sogar positive. „Jeder Krieg bringt Innovationen mit sich“, meinte ein Kolumnist der New York Times, „und der Krieg in der Ukraine ist da keine Ausnahme.“
Und wenn es ein Krieg im Brotkorb der Welt ist, dann zielen die Innovationen auf die Welternährung.
Schön wäre es, wenn sie zu Verbesserungen führen würden. Mehr Souveränität. Mehr Sicherheit. Mehr Gesundheit. Die Hoffnung lebt, dass (auch) beim Krieg ums Essen die Guten gewinnen.